«Tragen, was wir nicht tragen können»

NZZ am Sonntag, 25. Januar 2015
«Eat Pray Love» für Outdoor-Fans: Die Amerikanerin Cheryl Strayed hat über ihre Selbstfindungserfahrungen beim Wandern einen Weltbestseller geschrieben. Jetzt wurde «Wild» auch verfilmt.

Im Alter von 26 Jahren sind Sie 94 Tage lang durch den amerikanischen Westen gewandert. 1700 Kilometer, zu Fuss, allein auf dem Pacific Crest Trail. Warum?

Cheryl Strayed: Meine Mutter war vier Jahre zuvor an Krebs gestorben, meine Ehe ging in die Brüche, ich habe mich in Affären mit wildfremden Männern gestürzt, Heroin genommen. An diesem Tiefpunkt meines Lebens ist mir klargeworden, dass ich mich betrüge und die Person wiederfinden muss, die ich eigentlich bin.

Sie wollten in ein besseres Selbst wandern, obwohl Sie vorher weder in einem Zelt geschlafen noch jemals einen Rucksack getragen hatten?

Ja, so ist das grosse Erwachen schon am ersten Tag gekommen, als ich in der Wüste Kaliforniens Richtung Kanada loswandern wollte. Ich habe natürlich viel zu viele Sachen mitgenommen, lächerliche Dinge wie eine Säge oder Unmengen an Büchern. Mein Rucksack war mit 30 Kilogramm so schwer, dass ich ihn alleine fast nicht hochheben konnte.

Und doch sind Sie mit diesem Monster auf dem Rücken losgezottelt.

Ich habe gedacht, dass es normal ist, beim Wandern so schwer zu tragen. Und ich musste ja auch in einem metaphorischen Sinne eine Last schultern, die Trauer, den Schmerz. Darum geht es in meinem Buch «Wild»: Wie können wir tragen, was wir nicht tragen können?

Die Talkmasterin Oprah Winfrey, eine der mächtigsten Frauen, ist schwer beeindruckt, dass Sie sich allein auf diesen Trail trauten. Ist Wildnis der letzte Unort der Frau?

Mit Sicherheit kann man da draussen lebensverändernde Erfahrungen machen. Vor allem als Frau. Wir haben zu viel Angst vor dem Alleinsein und meinen, dass wir nur in Gesellschaft von Männern wirklich sicher sind. Insbesondere auf Reisen oder in der Natur. Natürlich hätte ich Opfer eines Verbrechens werden können oder einen Unfall haben, so wie zu Hause oder auf der Strasse. Aber Auto zu fahren ist weitaus gefährlicher, als allein im Wald zu schlafen. Für mich ist die Wildnis damals sicherer gewesen als die Zivilisation, nur nehmen das alle umgekehrt wahr.

Trotzdem sehnen sich viele nach so einem Abenteuer.

In der Geschäftigkeit des modernen Lebens ist der Wunsch nach Stille und Abgeschiedenheit grösser denn je. Die Kraft meiner Geschichte liegt also auch darin, dass ich den Leuten Mut mache, aufzubrechen und etwas zu wagen. Die Welt mag ein gefährlicher Ort sein, wir sollten uns jedoch nicht von Angst regieren lassen. Aber klar: Auch ich musste mir nachts im Zelt immer und immer wieder einreden, es wird okay sein, es wird gutgehen, es wird nichts passieren.

Sie sind fast auf eine Klapperschlange getreten und haben Bären angetroffen. Wovor fürchteten Sie sich am meisten?

Vor dem Scheitern. Als geschiedene Frau mit Drogenproblemen war ich schon auf so viele Arten gescheitert. Aber ich war zu stolz, meine Freunde anzurufen und zu sagen, ich hätte es nicht geschafft.

Die Begegnungen mit den Menschen scheinen auf Ihrer Wanderung fast ungemütlicher gewesen zu sein als die mit den wilden Tieren. Sie wurden von Pfeilbogenjägern gestalkt und mussten sich von Männern immer wieder anzügliche Sprüche anhören.

Nun ja, der Mensch und insbesondere die männliche Variante davon zählt zu den gewalttätigsten Kreaturen. Sind Frauen allein unterwegs, ist Sexismus lebendig wie nie. Nach wie vor müssen Solo-Wanderinnen Fragen wie «Bist du lesbisch?» beantworten. Darum überrascht es mich nicht, dass mein Buch auch eine Geschlechterdebatte ausgelöst hat. Sexismus ist zwar subtiler geworden, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Inzwischen bin ich 46, Mutter zweier Kinder und werde immer wieder gefragt, wie ich Familie und Beruf unter einen Hut bringe. Mein Mann muss solche Fragen nie beantworten.

Sie scheinen auch sonst relativ furchtlos zu sein, schreiben in den prüden USA ebenso locker über Ihre Abtreibung, wie Sie Gott einmal eine «unbarmherzige Schlampe» nennen. Glauben Sie damit den Spirit moderner Frauen zu verkörpern?

Ich denke schon. Darum identifizieren sich aber auch Männer mit mir. Ich bin nicht die Einzige, die masturbiert oder zu viel Sex hatte, den ich im Nachhinein wieder bereute. Ich schreibe über meine Schwächen ebenso ehrlich wie über das Sterben meiner Mutter oder den Schmerz über ihren Tod. Manchmal habe ich gedacht, dass ich zu viel Intimes preisgebe. Etwa da, wo ich beschreibe, dass ich die Asche meiner Mutter schlucke. Aber genau diese Wahrheit trifft so viele, weil sie eben menschlich ist.

Von drinnen betrachtet ist das Draussen, die Natur, unendlich und unwiderstehlich. Wie ist es, wochenlang mittendrin zu sein?

In den ersten acht Tagen hätte ich alle paar Sekunden am liebsten aufgegeben, ich habe keine Menschenseele gesehen und mich furchtbar allein gefühlt. Je weiter ich aber gegangen bin, desto mehr ist die Natur zu einem Ort geworden, an den ich hingehöre. Insofern kann man die Wildnis mit einem neuen Zuhause vergleichen: Am Anfang fühlt sie sich fremd an, aber mit der Zeit schliesst sie einen in die Arme.

Was macht es mit einem, 97 Tage lang nur zu gehen?

Ich habe meinen Körper ganz anders wahrgenommen. Im Alltag als Frau ist oft die Schönheit das Mass aller Dinge. Auf dem Trail ist mir jedoch klargeworden, dass mein Körper viel mehr als nur eine Hülle ist: ein Gefährte, der mich Tag für Tag stärker werden liess.

Was passiert im Kopf?

Es verlangsamt ungemein. Und wer die Welt im Schritttempo wahrnimmt, sieht nicht nur die grosse Perspektive, das Blumenfeld, die Berge dahinter und den Himmel, sondern auch die ganz kleinen Dinge. Diese Wahrnehmung übersetzt sich in die Psyche. Ich habe mein Leben anders betrachten und auf die richtigen Dinge fokussieren können.

Das klingt jetzt alles wahnsinnig romantisch, dabei haben Sie 15 Kilo und sechs Zehennägel verloren. Was war das Härteste an dieser Wandertherapie?

Den Schmerz zu ertragen. Den Schmerz, Tag für Tag einen Fuss vor den anderen zu setzen, trotz Hitze, trotz Kälte, trotz allem. Schon nach drei Tagen habe ich von dem schweren Gewicht an verschiedenen Stellen geblutet, und meine Füsse sind in meinen viel zu engen Wanderschuhen voller Blasen gewesen. Genau das aber ist für meine emotionale Heilung so wichtig gewesen.

Warum muss man körperlich leiden, um seelisch zu heilen?

Viele mythische Transformationsprozesse sind an körperliches Leiden gebunden. Ich habe den inneren Schmerz im Aussen wiederholt und dadurch erfahren, dass ich einen Fuss vor den anderen setzen kann, auch wenn jeder einzelne Schritt weh tut. Mir ist plötzlich klargeworden, dass ich glücklich sein konnte, obwohl ich traurig war. Das hat mir geholfen, mit all meinen Problemen besser klarzukommen.

Welche Parallelen gibt es zwischen Heroinkonsum und Langstreckenwandern?

Ich sehe beides als Teil eines Übergangsritus an, wie er in verschiedensten Kulturen zu beobachten ist, wenn sich junge Menschen in furchteinflössenden Situationen behaupten müssen. Ich habe mich testen müssen, Gefahren ausloten, an Grenzen gehen. Als Mutter sorge ich mich heute um nichts so sehr wie um das Wohl meiner Kinder. Gleichzeitig müssen sie selber lernen, was Gefahr bedeutet. Wir können nicht ein Leben lang sitzen bleiben und sagen: «Oh, das ist das Feuer, das wird weh tun.»

Der Philosoph Friedrich Nietzsche war der Meinung, dass alle schlauen Ideen draussen entstehen, beim Wandern, an der frischen Luft. Was ist Ihre Philosophie des Gehens?

Dem kann ich mich nur anschliessen. Gehen ist für mich Meditation, Therapie und Sport zugleich. Ich gehe, wenn ich ein Problem habe. Ich gehe, um mich zu beruhigen, Dinge zu reflektieren oder einfach zu entspannen. Ohne tägliche Spaziergänge würde ich wohl auch keine erfolgreichen Bücher zustande bringen. Sie sind für meinen Schreibprozess ungemein wichtig. Immer wenn ich Blockaden habe, gehe ich hinaus. Dabei kommen mir Dinge in den Sinn, an die ich sonst nie gedacht hätte.

Wo und wann sind Sie das letzte Mal gewandert?

Vor ein paar Monaten, im Mount-Hood-Nationalpark, in der Nähe von meinem Zuhause in Portland, Oregon. Letzten Sommer war ich in Chamonix, da hat es mir so gut gefallen, dass ich im Juni zurückkomme. Ich liebe die Alpen.

Welches Naturgesetz gilt im Zivilisationsalltag?

Ob beim Wandern, Zelten oder beim Kajaken, in den USA gilt: «Leave no trace.» Das bedeutet, alles so zu hinterlassen, als wäre man nie da gewesen. Natürlich ist das in der modernen Welt nur begrenzt möglich. Aber ich wünsche mir, dass wir generell netter mit diesem Planeten umgehen.

Was hat Sie der Trail gelehrt?

Akzeptanz. Ich habe die Tageszeiten akzeptieren müssen, die Distanzen, die Hitze des Sommers. Und ebenso die Tragödien meines Lebens. Ich habe mich dadurch nicht radikal verändert, aber es ist vieles leichter geworden. Wir alle leiden, erleben Trennungen oder schwierige Zeiten, sie gehören zum Leben. Das einzusehen, war sehr wichtig für mich. Das Wandern hat mich die Bescheidenheit gelehrt, die man haben muss, um weiterzugehen, auf dem Wanderweg wie auch im echten Leben.