Ach, Justin

NZZ am Sonntag, 2. September 2019
Vom Umweltadvokaten zum Pipeline-Besitzer: Justin Trudeau gibt auf dem internationalen Parkett gerne den Retter des Planeten. Dabei ist die Umweltpolitik des kanadischen Premiers miserabel.

Und wieder geht für Justin Trudeau eine schwierige Woche zu Ende. Er muss mit Trump den Nafta-Deal aushandeln, er, die Antithese zu allen Rechtspopulisten dieser Welt. Die Projektionsfläche, die grösser war als die Weiten Kanadas. Und während dieser Trudeaualso Trump bei Laune hält, tobt innenpolitisch ein Kampf.

Es ist ein Kampf um Öl, Geld und Macht, wie immer, wenn es um die schwindenden Ressourcen geht. Es ist aber auch ein Kampf um Mythen und verlorene Hoffnungen.

Eben trafen sich an der kanadischen Westküste Hunderte von Autoren und andere ehemalige Huldiger der sogenannten Trudeau-Mania zu einer Protestlesung. Vor gar nicht langer Zeit waren sie noch ganz angetan von dem jungen Premierminister, der sich als Feminist bezeichnet, an Schwulenparaden mitläuft und ein indianisches Tattoo hat. Jetzt wirft ihm zum Beispiel die Schriftstellerin Margaret Atwood vor, eine zerstörerische Umweltpolitik zu betreiben und dabei auch die Rechte der Indigenen zu ignorieren. Und US-Kollege Bill McKibben, Gründer der Klimaschutzorganisation 350.org, äusserte sich schon viel früher viel dezidierter: «Hört auf, für Justin Trudeau zu schwärmen», schrieb er im «Guardian», «der Mann ist ein Desaster für den Planeten.»

Das dreckigste Öl der Welt

Ölprojekte sorgen auf der ganzen Welt für Proteste. Auch in Kanada wird seit Jahren gestritten, wo Pipelines gebaut werden dürfen und ob das überhaupt noch vertretbar ist. Nie schien der Klimawandel realer und die Energiewende dringender. Mit der «Trans Mountain Expansion» ist nun eine neue Eskalationsstufe erreicht: Das Projekt des texanischen Konzerns Kinder Morgan wird zum Standing Rock des Nordens, Symbol des indigenen Widerstands gegen die Zerstörung der Natur, analog zum Protest gegen die Dakota Access Pipeline in den USA. Nur wird jetzt in Kanada protestiert, dem vermeintlich besseren Amerika, dem progressiveren und schöneren, mit seinen ewigen Wäldern und majestätischen Hirschen. Aber das ist «Moose­shit», wie etwa der kanadische Kolumnist Jesse Brown klarmacht, Elchscheisse.

2016 stimmte die Regierung Trudeau einer Erweiterung der Trans Mountain Pipeline zu, die die Teersandvorkommen der Provinz Alberta mit dem Hafen von Burnaby, British Columbia, verbinden soll. Seither ist der Widerstand gewachsen, zumal aus Teersand gewonnenes Öl als das dreckigste der Welt gilt – nur schon die Förderung ist höchst energieintensiv und maximal umweltschädlich.

«Kein Land würde 173 Milliarden Barrel im Boden finden und sie einfach dort lassen.»

Will das derselbe Trudeau, der am Pariser Klimagipfel noch für seine Ansage «Kanada ist zurück, meine Freunde!» bejubelt wurde? Ja, genau der Trudeau, der vor Vertretern der Öl-Industrie auch Sätze sagt wie im März 2017: «Kein Land würde 173 Milliarden Barrel im Boden finden und sie einfach dort lassen.»

Über die Jahre ist der Protest in der Nähe von Kinder Morgans Hafen in Burnaby zum Zustand geworden. Im März gingen 10 000 Indigene, Umweltschützer und Küstenbe­wohner auf die Strasse. Dabei wurde unter anderem Elizabeth May verhaftet, die Parteichefin der Grünen. Als sich der Energiekonzern aus der politisch unsicheren Lage zurückzog, kaufte Trudeaus Regierung die über sechzig Jahre alte Pipeline einfach auf: für 4,5 Milliarden Steuerdollar. Der Ausbau soll 7,4 Milliarden kosten.

Dabei wollte er das Land doch in eine grünere Zukunft führen und den Ölsandabbau «auslaufen lassen». Kanada zählt zu den grössten Umweltsündern. Das hat auch mit Trudeaus konservativem Vorgänger Stephen Harper zu tun, einem kanadischen George W. Bush, der sich nicht um Klimaschutz scherte und Kanada zu einer Öl-Supermacht gemacht hat. Alberta hat die drittgrössten Ölvorräte der Welt, nur können sie nicht effizient genug an die Küste transportiert werden. Geplant ist, die bestehende Trans Mountain Pipeline mit dem Bau einer zweiten Leitung zu erweitern. Dann könnten statt den täglichen 300 000 Barrel bis zu 890 000 in den Hafen von Burnaby befördert werden. Gemäss Schätzungen entspricht das dem CO2-Ausstoss von bis zu drei Millionen mehr Autos pro Jahr auf den Strassen. Mark Jaccard, Professor für nachhaltige Energie an der Simon Fraser University in Vancouver, warnt davor, in Zeiten des Klimawandels Teersand in noch grösserem Stil abzubauen: «Wenn wir nur uns retten wollen, müssen andere kompensieren», sagt er. «Mit dieser Logik landen wir alle in der Hölle.»

Dabei wollte Kanada seine Emissionen bis 2030 um 30 Prozent senken, unter den Wert von 2005. Nur schon dieses Klimaziel ist im internationalen Vergleich bescheiden. Die unabhängigen Analysten von Climate Action Tracker stufen Kanadas Bestrebungen jetzt schon als «höchst ungenügend» ein. Sind alle Länder so ambitionslos, kann die globale Erwärmung nie auf 1,5 Grad begrenzt werden. Im Gegenteil: Sie würde um 3 bis 4 Grad ansteigen. Ebenso wenig greift Trudeaus Idee, den Pipeline-Ausbau mit Emissionssteuern zu kompensieren, zumal diese in mehreren Provinzen abgelehnt werden.

Die meisten Politiker reden davon, den Klimawandel zu bekämpfen, tun faktisch aber viel zu wenig. Von dem zum Messias überhöhten Trudeau fühlen sich besonders viele betrogen. Allen voran Teile der indigenen Bevölkerung, durch deren Territorien die Rohrleitungen führen. «Der Premierminister bricht seine Versprechen kontinuierlich», sagt etwa Khelsilem, Sprecher der Squamish Nation. Trudeau wollte ja auch die Beziehung zu den Ureinwohnern verbessern, keine sei ihm wichtiger, betonte er während des Wahlkampfs. Und keine ist problembeladener, zumal auch Kanada auf Indianerblut aufgebaut wurde und unter den First Nations heute immer noch Armut, Arbeitslosigkeit und Sucht grassieren.

«Unsere Bemühungen um eine bessere Beziehung mit der indigenen Bevölkerung beschränken sich nicht nur auf historische Fehler», sagte Trudeau bei der Uno-Vollversammlung, «sie gehen ums Zuhören und Zusammenarbeiten.» Inzwischen scheint er vor allem den Pipeline-Befürwortern Albertas zuzuhören, die sichere Jobs wollen und rund 17 Prozent zu den Einnahmen Ottawas beitragen. Der Streit spaltet das Land. Auch John Horgan, British Columbias Ministerpräsident, will Trans Mountain mit allen Mitteln bekämpfen und die Küste vor Tankerunfällen schützen, die wilden Lachsbestände, die Wale und mit ihnen auch die Tourismusindustrie. Dafür hat Alberta schon gedroht, Benzinlieferungen nach British Columbia zu stoppen.

Trudeau verliert vor Gericht

Nächstes Jahr sind Parlamentswahlen. Trudeau steht unter Druck. Ende 2017 hatte er zum ersten Mal mehr Kritiker als Unterstützer, wie das Angus Reid Institute berechnet hat. Im März waren 56 Prozent nicht mehr einverstanden mit seiner Politik. Und auch die internationale Fangemeinschaft schwindet. Als der Premier an der New York University eine Rede halten sollte, äusserten sich viele Studenten kritisch. Sie bezeichneten Trudeau als liberalen Posterboy mit problematischen Positionen.

Zwischen all diesen Fronten ist die Lichtgestalt am Politikerhorizont in den Niederungen der Realität angekommen. Und der Streit um Trans Mountain ist längst ein Fall für die Justiz: Am Donnerstag haben Richter die staatliche Genehmigung für die geplante Pipeline annulliert und den Bau gestoppt. Die indigenen Gemeinschaften seien im Evaluationsprozess nicht genug einbezogen und die Risiken für die Umwelt ungenügend analysiert worden. Trudeaus Kommentar auf Twitter: «Die Regierung steht hinter dem Projekt und stellt sicher, dass es richtig vorwärtsgeht.»