Baumfreunde

NZZ, 18. Juni 2016
Fotos von Bruno Augsburger
Seit Monaten führt Förster Peter Wohlleben mit «Das geheime Leben der Bäume» die Bestsellerlisten an. Er glaubt, dass auch Buchen Freunde sind oder Sozialhilfe betreiben. Ein Gespräch über Pflanzenfaschismus, Baumburnouts und das Wood Wide Web.

Herr Wohlleben, klagen Ihre Bäume momentan auch so über den Regen?

Nein. Normalerweise wären sie nach dem ersten Vegetationsschub ziemlich erschöpft. Jetzt ist der Boden alles andere als ausgetrocknet. Sie fühlen sich pudelwohl, schlafen viel und lassen nachts ihre Zweige hängen.

In Ihrem Bestseller «Das geheime Leben der Bäume» klingt das Waldleben weniger nach Wellness: Bäume sollen sich vor fiesen Käfern warnen oder gar an Burnouts leiden?

In der Tat. Werden etwa Eichen von Insekten angegriffen, tut ihnen das weh. Als Abwehr leiten sie giftige Gerbstoffe in die Blätter und alarmieren über das Wood Wide Web ihre Artgenossen.

Wood Wide Web?

Das sind Wurzel- und Pilzgeflechte, über die Bäume kommunizieren oder sich gegenseitig füttern. Burnouts gibt es eher, wenn sie all ihre Energie verballern, um in die Höhe zu wachsen.

Sie klingen, als hätten Sie es mit Menschen in Blätterkostümen zu tun. Sie vermenschlichen auch die restlichen Waldbewohner, die Tiere. Warum?

Mag sein, dass meine Aussagen emotional sind. Dafür können sie auch Laien verstehen. Ich übersetze Wissenschaft in Alltagssprache.

Peter Wohllebens Darstellung vom Wald und von seinen Bewohnern erinnert an den Science-Fiction-Film «Avatar», wo alles lebt und interagiert, Menschen, Tiere und Pflanzen. Mit Sicherheit trifft der deutsche Förster in Zeiten von Terror und Flüchtlingskrise einen Nerv: «Das geheime Leben der Bäume» ist das angesagteste Naturbuch unserer Zeit und Wohlleben der einzige Förster, der in Talkshows über das Sozialleben von Bäumen sprechen kann, ohne belächelt zu werden. Dafür ist er zu erfolgreich: 2015 war sein Buch Jahressieger der Spiegel-Bestseller. Bis heute ist Wohlleben die Nummer eins auf der Liste, vor Thilo Sarrazin und dem Dalai Lama.

Er ist hochgewachsen wie die Bäume, die er so liebt. Mit grossen Schritten führt er über die Waldlichtung in der Eifelgemeinde Hümmel, wo Handwerker sein Forsthaus renovieren. Das Wetter ist ausnahmsweise schön, Wohlleben möchte im Garten sitzen. Schober, Kaninchen- und Hühnerstall sind rot-weiss angemalt wie die Häuser in Schweden, Wohllebens Sehnsuchtsland, wo es noch Weiten gibt und die Wälder unberührter sind.

Dahin ist er in der Phantasie oft gereist in den letzten Monaten. Die Begleiterscheinungen seines Erfolgs haben an dem 52-Jährigen gezehrt: Lesungen, Signierstunden und all die Fans, die sehen wollen, welche Bäume «Nachbarschaftshilfe» betreiben oder «alte Freunde» sind. Es ist kaum ein Jahr vergangen, seit er, wie die «New York Times» festhielt, zur «Sensation» geworden ist. Nun kommt schon das nächste Buch, es ist das sechzehnte in neun Jahren: «Das Seelenleben der Tiere».

Sie werden Baumversteher genannt, Waldflüsterer oder – Pflanzenfaschist. Was passt am besten?

Ich bin Förster, nur ist diese Bezeichnung traditionell besetzt. Wenn ich meiner Tätigkeit einen Namen geben könnte, dann Waldhüter. Der schaut, dass es dem Wald gutgeht – selbst wenn er genutzt wird.

Muss man dazu der Baumrassist sein, der Ihnen Kritiker nachsagen?

Ach, es meinen alle, dass ich bis auf Buchen alle Bäume schlecht finde. Dabei möchte ich die Arten einfach dort haben, wo sie von Natur aus vorkommen. Und hier sind wie in den tieferen Lagen der Schweiz Laubbäume heimisch. Trotzdem bestehen unsere Mischwälder mehrheitlich aus schnell wachsenden Nadelhölzern, die naturgemäss weiter nördlich wachsen. In Deutschland sind noch 0.3 Prozent der Waldfläche Urwald, während in Brasilien 80 Prozent stehen. Bevor man die Waldpolitik anderswo kritisiert, müsste man einsehen, dass hier die Hütte brennt.

Tatsache ist, dass wir unser Cheminéefeuer wollen oder Holz für Parkettböden.

Natürlich. Ich fordere auch nicht, dass man alle Plantagen renaturisiert. Es wäre aber schön, wenn wir 15 Prozent des Waldes als heimische Ökosysteme schützen und Bäume in natürlichen Netzwerken leben lassen könnten. Auf Plantagen ist das nicht möglich, weil die Wurzeln beim Pflanzen so beschädigt werden, dass Bäume zu anfälligen Einzelkämpfern werden.

Was bedeutet das für die Nadelbäume hinter dem Gartenzaun?

Das sind nordamerikanische Douglasien, die Buchenkindern momentan als Stiefeltern noch Schatten spenden. Wir werden sie schlagen, aber nur sukzessive. Bei einem Kahlschlag würde das Klima viel zu heiss und zu trocken. Auch für die alten Buchen im nahe gelegenen Reservat. Da haben Forscher übrigens ein Urwaldrelikt entdeckt. Einen Rüsselkäfer, der aussieht wie ein Elefant mit Irokesenschnitt. Wenn man solche Wälder abholzt oder in Nadelbäume umwandelt, ist der für immer weg.

Die Welt kommt auch ohne ihn zurecht.

Mag sein. Solange wir aber nicht wissen, welche Funktion unerforschte Arten im Ökosystem haben, wissen wir auch nicht, was mit ihnen verloren geht und welche Auswirkungen das hat. Die Forschung schaut sich ja viel aus der Natur ab. Generell sind Naturwälder robuster. 53 Prozent der Fichten, die Mastschweine unter den Bäumen, fallen durch Katastrophen. Für sie ist es hier zu heiss und zu trocken, bei Stürmen kippen sie im Gegensatz zu langsam wachsenden Buchen schnell um. Wir werden sehen, wer den Klimawandel besser übersteht.

«Ich möchte Baumarten dort haben, wo sie von Natur aus wachsen.»

Heute ragen auf den 750 hügeligen Waldhektaren von Hümmel noch Tannenspitzen in den Himmel. Läuft alles nach Plan, werden sie von oben irgendwann aussehen wie ein Meer aus grünen Laubwolken. Teile davon sollen Schutzreservate bilden, andere werden nach dem Plenterwald-Prinzip aus dem schweizerischen Couvet bewirtschaftet: einzelne Bäume fällen statt kahlschlagen, mit Pferden statt Maschinen arbeiten – Pflanzen und Boden schonen. Laut Wohlleben verursacht das weniger Kosten. Traditionelle Forstunternehmer halten trotzdem wenig davon. In der April-Ausgabe ihres Holz-Zentralblatts wird dem Andersdenker viel mehr als seine Wesenshaftigkeit der Bäume vorgeworfen: Er sei ein Selbstdarsteller, mit dem fachlich regelmässig «der Gaul durchgehe». Und vermutlich zeige sich bald die «Fratze des Extremisten» im weichen Förstergesicht.

Auch diesen Vorwürfen begegnet Wohlleben mit einem Lächeln. Er ist jedoch sehr bemüht, sich aus der Ecke der Baumumarmer zu reden. Sein bestes Argument ist eine Zahl: 300 000 Euro. So viel Gewinn erwirtschaftet sein Forst heute, während er früher 75 000 Minus schrieb. Das hat auch mit Diversifizierung zu tun: So wie Landwirte im Nebenerwerb Schlafen im Stroh anbieten, verdient Wohlleben auch ohne Holzschlagen Geld. Weil die Menschen den Wald neu entdecken. Seit der Aufklärung ist er als Teil einer idealisierten Natur immer wieder Gegenbild zur Zivilisation. In der Romantik war der Wald eine Höhle, ohne Licht der Vernunft. In Zeiten, in denen Entschleunigung zum Marketing-Konzept wird, ist der Wald Wellness, Kindergarten, Sportplatz, Meditationsraum, Sanatorium. Manager zahlen Wohlleben dafür, dass sie im Grün Blockhütten bauen dürfen. Unternehmen mit ökologischer Gesinnung finanzieren Schutz. Und Fans kaufen sich in Wohllebens «Ruheforst» das, was sie hier auch vor der Waldbestattung suchen: Frieden.

Diese Waldromantik ist ein grosser Widerspruch: Nie wurde mehr Holz verfeuert und verbaut als heute. Sie erzählen uns, dass Bäume fühlen und denken – gleichzeitig brennen Sie mit zehn Kubik pro Jahr zehnmal mehr Holz ab als der Durchschnitt. Wie passt das zusammen?

Natürlich nutze ich Holz statt Öl aus Fernost. Als Angehöriger der menschlichen Art töte ich Lebewesen, um meine Bedürfnisse zu stillen. Die Frage ist nun, wie man es macht, rücksichtslos oder artgerecht und verträglich. Ich stelle mich der Verantwortung und schlachte Bäume, um zu heizen, so wie ich Kaninchen oder Ziegen schlachte, um Fleisch zu essen. Es gibt inzwischen viele positive Beispiele von wachsendem Respekt unseren Mitgeschöpfen gegenüber. Eines davon ist der Kolkrabe, den wir eben gehört haben.

Inwiefern?

Kolkraben konnten fast ausgerottet werden, weil sie ihren Ehepartnern auch nach dem Tod treu bleiben und nicht mehr reproduzieren. Jetzt sind sie zurück. Sie beherrschen übrigens mehr als 80 verschiedene Rufe und können sich Namen von Artgenossen merken.

Sind Kolkraben die härtesten Waldbewohner?

Nein, das ist das Hirschkalb, das sich an meinen Setzlingen zu schaffen machte. Es liess sich nicht von meinem Hund vertreiben, sondern trieb ihn in die Flucht. Wie mutig!

Dass Wohlleben Bäume vor Hirschen und überhaupt der ganzen Welt schützt, war in seiner Finanzberaterfamilie nicht vorgesehen. Als Bub züchtete er Frösche, während seine Geschwister für Prestigeberufe wie Rechtsanwalt, Richterin und Botschafterin lernten. Wohlleben ist das grüne Schaf geblieben. Er fühlt sich den Schwachen am nächsten. Am meisten berührt hat ihn in seinen Waldjahren, dass Buchen einen alten Baumstumpf über Jahre mit Zuckerlösung durchfüttern und am Leben erhalten. Er sagt: «Von der Evolution lernen wir, dass jeder gegen jeden kämpft und der Stärkere gewinnt. Das ist definitiv nicht immer so».