Der Bauernkampf

NZZ am Sonntag, Hintergrund, 21. Juni 2020
Fotos von Andrea Caprez
Wer ausschert, wird aussortiert. Wer offen spricht, ist ein Verräter. Am Beispiel des Zürcher Bauernverbands zeigt sich der Machtkampf zwischen Fortschrittlichen und Bewahrern.

An einem ihrer letzten öffentlichen Auftritte steht sie vor ihrem Biobauernhof. Die Junglandwirtin wirkt entschlossen in diesem Video, und sie spricht mit fester Stimme. «Die Landwirtschaft steht an einem Wendepunkt», sagt Hanna Rikenmann. Sozialer solle sie sein und agrarökologischer. Und: «Wir alle möchten gesundes Essen und eine intakte Umwelt.» Was soll daran problematisch sein? Nichts. Und alles.

Es ist Januar 2020. Noch ahnt niemand, wie dieses Video das Leben der jungen Bäuerin verändern wird. Darin ruft ein Zweiter zu einer Demonstration auf. Gegen unfaire Preisbildung und eine belastete Umwelt. Für Ernährungssicherheit und eine Landwirtschaft mit Zukunft. Ein paar Wochen später ziehen rund 4500 Menschen durch Bern. Sie skandieren: «Gift ist Kacke, wir nehmen Striegel und Hacke!» Die Umweltschützer, progressive Bauern und Verbandsvertreter gehören dem Bündnis «Landwirtschaft mit Zukunft» an. Hanna Rikenmann fehlt. Zu diesem Zeitpunkt ist sie von den wichtigsten Funktionen in bäuerlichen Gremien zurückgetreten. Für die einen ist sie eine Verräterin. Für die anderen Opfer eines Machtsystems – des Zürcher Bauernverbands (ZBV).

Der ehemalige Präsident sagt: «Auch mich haben sie als Verräter bezeichnet.»

Der amtierende Präsident sagt: «Unsinn!»

Sie selbst will gar nichts mehr sagen.

Was nach Verbandstratsch klingt, ist Symptom eines grösseren Problems. In der Schweizer Landwirtschaft tobt ein Machtkampf. Heidibauern gegen Vollgasbauern. Unkonventionelle Ideen prallen an verkrusteten Strukturen ab, und Innovatoren bleiben auf der Strecke. So wie Hanna Rikenmann bei den Zürcher Bauern, die unter den 25 kantonalen Berufsorganisationen des Schweizer Dachverbands als besonders konservativ gelten: «Stur wie Munis in der Ochsenscheune», hört man, oder «Betonköpfe, die jeglichen Fortschritt verhindern».

Das geht alle an. Die Zürcher Bauern bestellen nicht nur ihre Felder, sondern sie beeinflussen auch, was wir in Zukunft essen oder wie wir mit der Natur umgehen. Selten war der Druck grösser: Klimawandel gepaart mit Insektensterben, Vogelsterben, Chlorothalonil im Trinkwasser – je häufiger die Bauernidylle ins Gegenteil verkehrt wird, desto lauter die Kritik an einer Landwirtschaft, die gemäss der Denkfabrik Avenir Suisse jährlich rund 20,7 Milliarden Franken kostet. Dass das Volk den agrarpolitischen Schlendrian langsam satthat, zeigt eine Vielzahl von Initiativen. Pestizide: ja oder nein? Massentierhaltung: ja oder nein? So werden Antworten auf Fragen gesucht, die Gräben aufreissen wie der Hitzesommer in die Kartoffeläcker: Wer macht es richtig, und wer falsch? Und wie soll es weitergehen?

Diese Gräben wollte Rikenmann überwinden. Als Teil einer neuen Generation, die nicht länger an Ort vor sich hinstampfen will. «Politik, Verbände, Konsumentinnen wie auchBauern und Wissenschaft müssen zusammenarbeiten», sagt sie im Video. Zusammenarbeiten. Es ist eine ebenso schöne wie naive Idee. Rikenmanns Vorstellung von Zusammenarbeiten geht über den Verbandshorizont hinaus. Sie ist zu diesem Zeitpunkt nicht nur Präsidentin der Zürcher Junglandwirte und ZBV-Vorstandsmitglied, sondern auch Mitarbeiterin von Vision Landwirtschaft. Das ist eine Denkfabrik, die das Schweizer Agrarsystem neu erfinden möchte. Während die Zürcher Bauern eine hochproduzierende Landwirtschaft wollen, ist diese für die Agrarkritiker alles andere als nachhaltig genug. Die einen kämpfen gegen die Pestizidinitiativen, die anderen dafür.

Das Branchenblatt «Schweizer Bauer» thematisiert Rikenmanns widersprüchliche Tätigkeiten in der Ausgabe vom 5. Februar 2020. Fälschlicherweise wird darin behauptet, die Biobäuerin habe im Video zur Demonstration aufgerufen. Hat sie nicht. Zu spät ist es trotzdem. Bald muss sie sich dem obersten Zürcher Bauer erklären. Und in ihrem Umfeld erzählt man, dass Rikenmann im Vorstand als Verräterin bezeichnet wurde.

Vergaloppiert

Verräterin? Trägt man diesen Vorwurf nach Watt bei Regensdorf, ist der oberste ZürcherBauer empört: «Wer behauptet denn so etwas?», fragt Hans Frei, 66, weisses Haar, sorgfältig gebügeltes Hemd. Seit 2012 ZBV-Präsident, seit 2013 Vizepräsident des Schweizer Bauernverbands. Rikenmann habe versprochen, für Vision Landwirtschaft keine Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Unter dieser Voraussetzung habe der Vorstand ihre Mitarbeit hingenommen, sagt er. Dann sei sie aber in den Medien mit «Parolen» gegen jene des nationalen Verbands aufgefallen. «Sie hat sich vergaloppiert und die Konsequenzen gezogen», sagt Frei. Schade, schliesslich habe er noch das Votum für sie ergriffen und sie bei der Wahl in die nationale Berufsbildungskommission unterstützt.

Auf Freis Lindenhof werden also nicht nur Kühe gemolken, sondern auch Fäden der Macht gesponnen. Hier wird entschieden, wer mitbestimmen soll und wer nicht. Der als Hofgruppe angelegte Backsteinbau liegt am Watter Rebberg. 2013 wurde der Anbindestall für 24 Kühe zu einem blitzsauberen Laufstallparadies für 67 Kühe umgebaut. «2 Millionen Franken Kosten, 22 000 pro Kuhplatz», sagt Frei mit Unternehmerstolz. Mehr Tierwohl, mehr Wirtschaftlichkeit, rund 85 000 Kilogramm Milchleistung pro Kuhleben, sein Junior wird bald die 100 000er Marke erreichen mit diesen Braunviehkühen, die schon Freis Vater nachgezogen hat und vor ihm der Grossvater.

Hans Frei hat mit dem Wort konservativ kein Problem. Es ist für ihn ein Synonym für bewahrend. Bestehendes erhalten, vor Veränderungen schützen. Er spricht klar, deutlich, und es klingt bisweilen, als würde er aus Statuten vorlesen: «Die Landwirtschaft ist systemrelevant», sagt er. Eigenversorgung sicherstellen, unabhängig bleiben, die rund 3000 Betriebe im Kanton schützen. «Wollen wir ihnen bei wachsender Bevölkerung Sorge tragen, müssen wir an den Ressourcen festhalten.»

Das Selbstverständnis gründet in den Kriegszeiten und kommt im traditionellen Lager wie das Amen in der Kirche. Der Bauer als Ernährer der Nation. Fragt man den bald abtretenden ZBV-Präsidenten nach den grössten Erfolgen seiner 17-jährigen Verbandskarriere, nennt er den «Sachplan Fruchtfolgeflächen». Es bedeutet, dass die besten Ackerflächen im Land bewahrt sind, nicht nur im Kanton Zürich, sondern im ganzen Land. Endlich: «Wir sind ja immer im Clinch», sagt Frei, den kaum etwas mehr aus der Ruhe bringt als Naturschützer, die Anspruch auf diese Böden erheben wollen. «Nein!», sagt er. «Unsere besten Böden, die brauchen wir!»

Noch ein Verräter

Diesen Kampf hat schon Hans Staub geführt. Er war vor Hans Frei Präsident der ZürcherBauern, bis auch er als Verräter bezeichnet wurde und sozusagen über Nacht zurückgetreten ist. Erst von seiner Funktion, dann der SVP. Auf Hans kam Hans, der eine fortschrittlich, der andere traditionell, der eine widersetzte sich der Parteilinie, der andere war treu, der eine soll abgesägt worden sein, der andere stieg im nationalen Verband auf. Das ungeschriebene Gesetz lautet also: Wer hoch hinauswill, muss ein Parteisoldat sein.

Die Allianz ist historisch gewachsen. Die SVP ist seit ihren Ursprüngen eng mit der Zürcher Landwirtschaft verbunden. Der heutige Bundesrat Ueli Maurer war gleichzeitig ZBV-Geschäftsführer und Präsident der Schweizer SVP. Verband und Partei bildeten eine Bürogemeinschaft an der Zürcher Nüschelerstrasse. Inzwischen sind beide Geschäftsstellen nach Dübendorf umgezogen, nicht in dasselbe Büro, die Adresse bleibt dieselbe, Lagerstrasse 14. Und wer das Verbandsblatt abonniert, bekommt das von der Partei gleich mitgeliefert, «Zürcher Bauer» und «Zürcher Bote» im Huckepack.

«Problematisch wie eh und je, zumal die Bauern nicht reflexartig dieselben Interessen haben wie die Parteileitung», sagt Staub heute, als man ihn auf seinem Hof in Wädenswil erreicht. Es ist, als hätte er aktuelle Debatten wie die um das CO2-Gesetz im Nationalrat vorausgesehen, wo die SVP-Fraktion nicht geschlossen gegen den «Klima-Sozialismus» kämpfen konnte, weil vier ihrer Bauern ausscherten. So wie Hans Staub anno dazumal. «Ich war weder grün noch links», sagt er, «ich wollte nur ein Präsident der Bauern sein.»

In diesem Wind witterten die Zürcher Grünen ihre Chance, als sie 2012 die Zersiedelung stoppen und sowohl Agrarland als auch ökologische Flächen schützen wollten. Mit den Zürcher Bauern, die in der Kulturlandinitiative aber so gespalten waren, dass sie sich nicht auf eine Abstimmungsparole einigen konnten. Nur der Präsident wollte «sich nicht den Mund verbieten lassen» und machte sich öffentlich für ein Ja stark.

«Zu grün, zu progressiv, die Initiative kam schlicht aus dem falschen Lager», sagt Staub. So sieht es auch Konrad Langhart aus Oberstammheim, der sieben Jahre im Vorstand der Zürcher Bauern war, bevor er 2017 vom Vollgas- zum Biobauern konvertiert ist, vom Präsidenten der Zürcher SVP zum parteilosen Kantonsrat der CVP-Fraktion. Er bereut, Staub damals nicht die Stange gehalten zu haben. Zu harmoniebedürftig sei er gewesen, obwohl auch er sich an den Sitzungen immer wie ein Exot vorgekommen sei, sagt Langhart. Als Bioanhänger hat er sich erst nach dem Austritt aus dem Vorstand geoutet, zumal diese nie wirklich ernst genommen worden seien. Langhart entfernte sich mit den Jahren immer mehr von dem Klischee des SVP-Bauern. Als er letztes Jahr aus der Bauernpresse erfuhr, dass der ZBV ihn bei den Nationalratswahlen nicht mehr unterstützt, hat es ihm den «Nuggi rausgehauen». Heute sagt er Sätze wie: «Beim Zürcher Bauernverband hat die Parteileitung das Sagen.»

Zurück auf dem Lindenhof möchte Hans Frei diesen Vorwurf «ganz klar in Abrede stellen». Er will nach vorne schauen und nicht auf Personalien zurück. Seit 26 Jahren politisiert er für die SVP, ein Leben für die Partei, ein Leben für den Verband. Das halte er auseinander, sagt er. Auch wenn er zugibt, auch schon «zurückgepfiffen» worden zu sein. Und nein, er habe nichts gegen Biobauern. Wenn jemand einen Keil zwischen die Landwirte treibe, dann die Umweltverbände oder die Medien.

In diesen aufgeregten Zeiten konnten die Zürcher Bauern ihren Einfluss halten. Auf kantonaler Ebene durch eine flächendeckende Organisation. Auf nationaler Ebene auch im National- und im Bundesrat. Die rote Jahresrechnung wurde schwarz, Vermögen rund 1,6 Millionen, Gewinn rund 104 000 Franken. Die Mitgliederbeiträge sind stabil, obwohl es weniger Betriebe gibt. Das Angebot geht von Versicherungen über Beratungen bis Halligalli. Legendär sind die «Puure Höcks», gut besuchte Hofevents, die auch von Grossfirmen wie der Syngenta gesponsert werden. Der ZBV kann durchaus mit der Zeit gehen, wenn er will. Mit der Facebook-Seite «Naturtalent» zum Beispiel, 20 542 Abonnenten, versucht man die Jungen anzupeilen.

Aufstand der Biofraktion

Was die Zukunft ausmacht, wird auch mit der Ausbildung entschieden. An Schulen, Vorträgen und Kursen. Da reden die Zürcher Bauern mit, dank besten Beziehungen zum Strickhof, dem Kompetenzzentrum für Bildung und Dienstleistungen in Land- und Ernährungswirtschaft. Im «Zürcher Bauer» vom 5. Juni 2020 lobt der Direktor Ueli Voegeli, SVP-­Gemeindeammann von Egliswil (AG), die Zusammenarbeit: «Der ZBV und der Strickhof arbeiten traditionell viel und in den grundsätzlichen Zielen sehr gut zusammen. Die Akteure kennen sich sehr gut und sind eng vernetzt.» Er zählt gemeinsame Tätigkeiten auf. Schliesslich räumt Voegeli von selbst einen Vorwurf aus, den man später von anderen hören wird: Der Direktor sei ein SVP-Mann, der Strickhof ein ZBV-Organ und damit ein SVP-Organ. Im Interview sagt Voegeli: «In agrarpolitischen und berufsständischen Themen hat sich der Strickhof natürlich neutral und rein sachlich zu verhalten.»

Die Zusammenarbeit ist nicht für alle neutral genug. Fredi Strasser zum Beispiel, 62, Biopionier aus Oberstammheim und seit 32 Jahren Lehrer am Strickhof, ist an diesem Nachmittag gerade dabei, seine Zwergschafe einzufangen, die das Gras zwischen den Reben abmähen. Dass die immer ausbüxen, ist das geringste Problem des Weinbauern. Er sorgt sich um die Fachstelle Biolandbau und den Stiegenhof. So heisst der Bio-Ausbildungs- und Versuchsbetrieb, den die Grünen mit einem ambitionierten Vorstoss erkämpften: den Strickhof Wülflingen auf Bio umzustellen. 2018 gab es immerhin einen Pachtbetrieb, den Stiegenhof, der auf der Agenda des Direktors weit unten stehe. Das stört Strasser. Er sagt: «Unser Fachbereich wurde seither auffallend ignoriert.»

Und er ist nicht der Einzige, der diese Meinung vertritt. Lippenbekenntnis ist das Wort, das man in diesem Zusammenhang oft hört. Gegen aussen auf nachhaltig machen, gegen innen die produktionssteigernde Intensiv­produktion vorantreiben. Strasser findet die einseitige Bewirtschaftung fragwürdig. Der Strickhof ist ja keine Privatschule, sondern eine Abteilung des Amtes für Landschaft und Natur (ALN) der Baudirektion des Kantons Zürich.

«So kann es nicht weitergehen», sagt Strasser, der Hoffnung schöpfte, als die grüne Welle Martin Neukom vor einem Jahr in den Regierungsrat und an die Spitze der Baudirektion spülte. Er bat ihn um ein Gespräch und nahm auch den verzweifelten Fachstellenberater mit, der sich öffentlich nicht äussern will und inzwischen auch gekündet hat. Der Baudirektor habe viele Notizen gemacht, passiert sei gar nichts. Dann wurde ihm ein Brief geschickt. Und siehe da, ein paar Stellenprozente mehr für die Bios, Aufstockung von 140 auf insgesamt 195 Prozent. So viel oder so wenig für einen wachsenden Biomarktanteil von 10,3 Prozent. Fragt sich: Was ist da eigentlich los?

Die Anfrage scheint das Amt ein bisschen aufzuscheuchen. Im Gespräch wirkt der Baudirektor überraschend uninformiert. Worum es schon wieder gehe, will er am Anfang wissen. Ach ja, Bio am Strickhof. Bei so vielen anderen Baustellen habe er sich noch nicht wirklich darum kümmern können. «Ich will die Bioförderung sicher stärken, aber auch die klassische Ausbildung muss ökologischer werden», sagt er. Wie genau, weiss der Grüne nach einem Amtsjahr noch nicht. Und wie kommen diese Ideen an? «Es ist bekannt, dass Ueli Voegeli kein Bioverfechter ist, aber er weiss, dass etwas gehen muss», sagt Neukom, der diesbezüglich einmal einen informellen Auftrag erteilt hat. Die 55 Stellenprozente mehr seien sicher noch nicht genug, sagt er. Er verschaffe sich immer erst einen Gesamteindruck, bevor er anfange, andere zu korrigieren. Vielleicht wird die Zusammenarbeit mit dem ZBV ja auch noch ein Thema. «Ich habe schon gehört, dass der Bauernverband zu viel Einfluss habe», sagt Neukom. Und: «Falls es zu viel Parteigeklüngel gibt, war mir das nicht bewusst. Ich kann es weder verneinen noch bestätigen.»

So ein Amt ist natürlich schwerfällig wie ein Tanker. Bis da was geht, ziehen Jahre in die Lande. Aber ob die grüne Hoffnung in der Baudirektion sich auch bei den Zürcher Bauerndurchsetzen kann? Die Biofreunde müssen sich vermutlich noch etwas gedulden, bis ihr Nachtschattengewächs am Strickhof so richtig zur Blüte kommt.