Der neue Goldrausch

NZZ am Sonntag, 9. Mai 2016
Fotos von Bruno Augsburger
Der Höhenflug des Goldpreises lockt wieder Glücksritter in die Weiten Kanadas. Doch diesmal rücken die Goldsucher nicht nur mit Schaufeln an, sondern auch mit Helikoptern.

Wer nach Dawson City kommt, muss einen guten Grund haben. «Einen verdammt guten», sagt Gerry, der Mann mit dem viel zu grossen Nugget um den Hals. Er lungert im Laden namens Trading Post und erzählt Geschichten. Warum dieses Western-Städtchen im kanadischen Yukon so lange vergessen war, etwa. Diese Einsamkeit. Diese Kälte. Und diese Bären erst: Jetzt zielt Gerry auf die Kasse, als wäre sie das Biest, das angeblich seine Frau Betsy fressen wollte. «Peng, ein Schuss, und tot war er. Aber jetzt ist das hier gelobtes Land. Warum? Die Kunst der Mutter Natur», sagt er, streichelt den Klumpen an seinem Halsbändel wie Gollum den Ring und flüstert: «Gooold».

Schon während des ersten Rauschs vor 115 Jahren quälten sich Glückssucher durch gigantische Weiten bis hierher, wo der Klondike in den Yukon River mündet, nach Dawson City. Über Pässe, durch Wälder und Flüsse, in diese brachiale Ecke Kanadas, 240 Kilometer vom Polarkreis entfernt. Darum packte auch Gerry Ahnert seine Betsy diesen Frühling wieder in den Van und stotterte von Syracuse, New York, Richtung Norden, eine Woche lang.

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Seit der Finanzmarkt einer Apokalypse gleicht, wird Gold immer interessanter. Vor zehn Jahren war die Feinunze (31,1 Gramm) noch 276.50 US-Dollar wert, am Freitag wurde sie für rund das Sechsfache gehandelt. Und so kommt es, dass sich im Yukon die Geschichte wiederholt. Oder neu geschrieben wird. Wo im Trading Post Geologen aus aller Welt Bären-Sprays einkaufen. Helikopter am Himmel rattern. Und der Discovery Channel hinter dem Hügel eine Schürfer-Show dreht. Hier soll die Welt gerettet werden. Wo sonst, wenn nicht im Yukon? Wo auf einmal unglaubliche Funde gemacht werden.

Fahrt an den schiefen Häusern Dawsons vorbei, 40 Kilometer Richtung Osten, rechts hinein in die Schotterstrasse, wo sich der Hunker Creek zwischen den Hügeln hindurchschlängelt. Umgegrabene Flächen tauchen zwischen Indian-Summer-Farben auf; Erdhaufen, braune Tümpel, Maschinen. Hier irgendwo möchte Gerry zeigen, wo er, der 72-jährige Rentner aus New York, «the little guy», den Deal seines Lebens gemacht hat.

Angehalten wird erst vor der Schlammgrube von Linda Palagian, 51, und ihrem Onkel Nick, 76, Gerrys Goldgräber-Nachbarn aus dem Süden Kanadas. Sie haben vor zwei Monaten Schürfrechte unter der Hand gekauft, vier sogenannte Claims für 40 000 kanadische Dollar. «Jetzt oder nie», dachten sie wie alle, die plötzlich einen dieser begehrten Claims wollen. Er, der Ex-Holzfäller, sie Sägerei-Arbeiterin. Er, der Arthritis-Kranke, sie, das Gold-Greenhorn. Egal. Bis jetzt haben sie hier zwar nur Kosten und Arbeit gefunden. Vielleicht aber enthält der Dreck, den sie gerade waschen, ja endlich Gold.

Schnell wird klar: Schürfen ist gar nicht so einfach. Und man sollte besser nicht zimperlich sein: Erst spritzt Linda Onkel Nick mit dem Schlauch nass. Dann stellt Onkel Nick ein zu schmales Becken ans Ende der Rinne. Dann lässt Linda das Becken überlaufen und alles versickern. Jetzt schneidet sich Onkel Nick auch noch an der Kante des Beckens. Und Gerry, die Cowboy-Boots gegen Gummistiefel getauscht, schreit Anweisungen in den Motorenlärm hinein. Alles scheint schiefzugehen, der Wind zieht ihnen um die Ohren, aber ihre Wangen glühen vor Glück.

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Dieses Gold-aus-dem-Grund-Buddeln heisst «placer mining». Zurzeit machen das im Yukon 140 private und professionelle «mining operations», das Gleiche im Grunde wie die Goldsucher vor ihnen, bloss mit modernerem Equipment. Bis heute wurden so 14 Millionen Feinunzen aus dem Boden gewaschen, im Wert von 1,4 Milliarden Kanada-Dollar. Wo all dieses Gold bloss herkommt? Daran studierten nicht nur Generationen von Goldsuchern herum, sondern auch Gerry, der jetzt wie ein junges Karibu den Berg hinauf hüpft. Nach links prescht, nach rechts, und seine allerliebste Geschichte erzählt: Wie er die Dokumente der «Oldtimer» analysierte. Dieses Dickicht durchkämmte und irgendwann genau da, wo er jetzt Äste auseinanderschiebt, mit zitternden Händen, als würde er die Moos-überwachsene Karrette darunter zum ersten Mal entdecken. «Ha! Hier waren die Oldtimer! Wusste ich es doch!»

Dieses «eine, winzige» Feld hatte noch niemand abgesteckt. Gerry schüttelt den Kopf, als könnte er immer noch nicht glauben, dass er es war, der hier auf rostfarbene Steine stiess, einen davon zur Probe einschickte und vier Wochen später wusste: «Eine Ader!» Gerry nannte sie Hasenfuss, «nach meinem armen Onkel, der in Pearl Harbor gefallen ist». Was folgte, war ein Goldgeschäft der neuen Ära: Gerry verkaufte seinen Claim für 60 000 Dollar an eine «Junior Mining Company». Mit Investoren-Geldern wird diese kostspielige Bohrmaschinen einfliegen, um noch genauere Gesteinsproben zu nehmen. Sind auch die vielversprechend genug, wird sie von einer der wenigen Major-Firmen übernommen, die noch mehr Millionen für den Bau einer Mine hätten.

Was Gerry im Kleinen versucht, gelingt einem hier oben im ganz grossen Stil. So gross, dass der Goldrausch 2.0 noch einen zweiten Namen hat: Shawn Ryan. Der Mann, der als Entdecker des Ursprungs allen Yukon-Goldes gilt. Weil er als Allererster bewiesen hat, dass im Gestein überhaupt noch etwas zu finden ist. Und er ein riesiges Depot aufspürte. Lange vor Gerry und 130 neuen «Junior Mining Companies», die es ihm inzwischen nachmachen wollen.

«Sorry, Shawn musste zu irgendeinem Meeting», sagt der Typ, der im schlabberigen Shirt am Eingang steht: Er stellt sich als Isaac vor, Shawn Ryans rechte Hand, zuständig für die Koordination von 90 Leuten, die in der Wildnis Bodenproben sammeln. Er ist kaum älter als 30, hat einen Bart im Gesicht und ein Blackberry, das ständig surrt. «Isaachier…Was?…Aber wir brauchen die Teile, dringend, das Ding muss in einer Stunde fliegen!»

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Die Zentrale des Ryan-Imperiums nennt sich Ground Truth, ist ein Drei- Raum-Container auf dem verlotterten Industrieareal vor Dawson City. Drinnen sieht es aus, als würde man hier Abenteuer-Touren organisieren und keine grossangelegte Gold-Jagd. In der Wohnküche sind noch mehr Bärtige dabei, GPS-Geräte oder Pickel in Rucksäcke zu verstauen, die ein Zwerg von Hund gerade anpinkeln will.

Auf dem Herd blubbert ein Chili. Die Bärtigen müssen sich stärken. Gleich werden sie per Helikopter in der Wildnis ausgesetzt, wo sie wie Ameisen ausschwärmen, Tag für Tag, alle 50 Meter eine Sonde metertief in den Boden rammen, Erde in die Plastictüte füllen, weiter geht’s. Acht Stunden und vier bis sechs Bärenbegegnungen später hacken sie noch einen Heli-Landeplatz, um die Proben abzugeben und in eines der Busch-Camps zurückgeflogen zu werden. Ben, 31, der die Stille sucht. William, 36, der die Herausforderung der Natur liebt. Oder Michael, 28, der «nichts anderes als draussen» sein will und insgeheim hofft, dass er im Boden keine Spuren von Gold findet. Es ist der Zwiespalt, mit dem diese Naturburschen alle dealen. Wo die Wildnis reich ist, wird dereinst vielleicht keine mehr sein. Falls der Goldpreis nicht zusammenbricht und sich der Bau einer Mine tatsächlich lohnt.

Isaac, selbst ehemaliger sogenannter «dirt bag», schlief jahrelang Zelt an Zelt neben Shawn Ryan im Busch. Jetzt gibt er letzte Instruktionen. Die Bärtigen sagen am Ende «all clear» und wollen dabei so heroisch klingen wie die Soldaten in «Platoon». Im Grunde ist das hier ja eine Art Kriegsführung. Einsätze werden genau geplant, Einheiten täglich neu positioniert, Goldziele systematisch eingekesselt. Elf Millionen Dollar kostet Ground Truth der Rekord von 185 000 Proben in diesem Sommer. Am Ende jedes Tages wird eine E-Mail an Shawn Ryan verschickt, die neusten Ergebnisse aus dem Labor im Anhang. «Und dann», sagt Isaac, «warten wir, bis das Blackberry klingelt und das Orakel spricht.»

Wie, Shawn Ryan, wird man das, Goldrausch-König im Yukon? «Ey, ich war einfach der Einzige, der bereit war, jahrelang für nichts und wieder nichts Proben zu sammeln», sagt er, lacht schallend und nimmt einen grossen Schluck schwarzen Kaffee aus dem Becher. Shawn, 46, muss erst einmal aufwachen. Seine Stimme klingt, als wäre die Nacht lang und der Whisky gut gewesen. Dabei ist er bis in den Morgenstunden hier vor dem Computer gesessen und hat, wie er es nennt, mit Daten «gespielt». Technik und Wissenschaft ist das, keine Magie. Er sei einfach der Typ mit dem Yukon-Nummernschild. Oder ein Buschmann. Und als das wolle er halt der Beste sein. So beginnt er zu erzählen, den Bauch ausgestreckt, die Hände im Nacken verschränkt, wie er zum Jäger dieses «Biests» wurde.

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Dieses «Yeti namens Gold». Von dem es immer nur Spuren gab. Und es ist, als würde man am Lagerfeuer sitzen und nicht in Ryans muffigem Haus vor Dawson City.

Der beste Mann im Busch, das wollte der Sohn eines Minenarbeiters aus Ontario immer schon sein. Als Schüler stank er nach totem Tier, weil er nachts Füchse oder Nerze häutete und sich ungeduscht ins Klassenzimmer setzte. Mit zwanzig zog er in den Yukon, um dasselbe als Trapper zu tun. Bis ihm ein Freund sagte, dass man mit Pilzen mehr Geld verdienen könne. «Magic Mushrooms ey, dachte ich erst. Dann bin ich halt mal los und habe mit dem Morchelsuchen angefangen.»

Shawn erinnert an einen Hasen, mit seinen Schaufelzähnen und den Lücken, die sich dahinter auftun. Besonders wenn er laut herauslacht, was er ziemlich oft tut. Aber seine immer hellwachen Augen sind die eines Getriebenen, der imstande war, in der Unendlichkeit Yukons erst das eine Gold-Depot mit über zwei Millionen Feinunzen aufzuspüren, auf 500 mal 500 Metern. Und dann noch ein zweites, grösseres, reicheres. Alleine damit kassierte er rund 30 Millionen Dollar und zog mit seiner Cathy und den Kindern aus einer Blechhütte ohne Strom und Wasser in dieses Sechs-Zimmer-Haus.

«Die Feuermorchel!» «Das Biest!» «Die DNA!» Shawn hat sich inzwischen hellwach geredet. Gerade spricht er ausgiebig gestikulierend über die Parallelen zwischen Pilz- und Goldsuche, «du musst an dich glauben und an das, was du vielleicht jahrelang nicht siehst», dann über die Regeln «des Spiels». «Wer sich in die Karten blicken lässt, sollte längst auf dem nächsten Hügel sein», und schliesslich die «Wahnsinns»-Technik, ohne die es den Goldrausch 2.0 nicht gäbe. Jetzt kommt eine E-Mail mit den neusten Laborergebnissen herein, Shawn verliert den Faden, weil die in seine «Master-List» müssen, jetzt, sofort. An den Bildschirmen tun sich in Google-Earth-Fenstern bunte Flächen auf, die per Mausklick rot, gelb, blau werden, eine Farbe für jedes lokalisierte Mineral. «Richtige Fingerabdrücke haben wir da! So wissen wir genau, was für Biester wir jagen! Und das Beste daran: Da draussen müssen noch zehn davon sein, mindestens!»

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Ohne seine Cathy aber, gibt Shawn grinsend zu bedenken, würde er wohl immer noch im Wald herumkriechen. Sie war es, die ihn ermutigte, die letzten 3000 Dollar in Claims zu investieren. Und sie ist es, die er vor jeder Investition, und sei sie noch so läppisch, um ein Okay bitten muss. Denn Shawn ist auch einer, der alle Ersparnisse in einen kaputten Helikopter investieren kann. Und heute findet er auf dem mit Papierkram und Steinen zugemüllten Schreibtisch nicht mal die eigene Visitenkarte. Was aber, Shawn, ist das Ziel? «Nicht das Geld. Ich kann in Dawson ohne Portemonnaie einkaufen, was will ich mehr? Hm.» Er kratzt sich am Kopf, brummelt «Ding, ding, ding», wie immer, wenn er nachdenkt, und sagt: «Das Land verstehen, das ist alles, ey. Vielleicht auch wieder dahin zurück, woher ich kam, in den Busch.» Und spätestens dann, wenn Shawn einen durch das Chaos dieses Hauses nach draussen führt, wo er all seine gesammelten Steine liebevoll aufgetürmt hat, daneben eine Morchel aus Holz, glaubt man ihm jedes Wort.

Goldene Abendstunden am Hunker Creek: Schürferin Linda und Onkel Nick sitzen in Campingstühlen, sie rauchen, sie prosten sich mit Bierdosen zu, es gibt etwas zu feiern: Einen Cottage-Cheese-Maxi-Becher, voll – mit Gold. Acht Feinunzen haben sie heute aus dem Dreck gewaschen. «12 000 Dollar, direkt vor unseren Füssen, cool oder?», sagt Linda und klopft Onkel Nick auf die Schultern. Nur einer gibt sich damit noch nicht zufrieden: Gerry, der immer weiter wäscht. «Crazy ist der Boden hier», ruft er, ohne seine Gollum-Augen auch nur eine Sekunde von der Pfanne abzuwenden. «Real Stuff ist das. All die Shawn Ryans hin oder her, haben die bis jetzt eine richtige Unze Gold aus dem Boden geholt? Eben.»