Auf dem Weg in ein Leben ohne Tiere auf dem Teller habe ich ein Reh geschlachtet und Büsche mit Elchpipi eingesprüht. Ich habe die Erfindung des Pflanzen-Kebabs miterlebt und ins Gesicht der Leihmutterkuh Beauty geblickt. Ich habe getötet und es bereut. Schliesslich war ich mit Tierrechtsaktivisten unterwegs, ich habe die Schweine im Schlachthof schreien gehört und mir einmal mehr die Frage gestellt: «Wie lange willst du eigentlich noch Teil davon sein?» Es ist der Moment, in dem es wie im Film «Matrix» nur eine blaue oder eine rote Pille gibt. Heute könnte man mich eine Veganerin nennen. Aber auch zu dieser Szene will ich nicht gehören.
Oktober 2011, Sensetal, Kanton Freiburg: Ich knie auf dem feuchten Waldboden. Vor mir liegt ein Reh mit aufgeschnittenem Bauch. Es ist noch warm, keine zwei Stunden tot. Jetzt halten es acht Hände an den Beinen fest, während ich mich zu einem glibberigen Etwas vortaste – der Niere.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich in der SOS-Outdoor-Survival-Schule mehr über das naturnahe Leben lernen will. Diesmal geht es um Tierverarbeitung, um etwas also, das die Welt nicht wissen will: dass Fleisch von getöteten Tieren stammt. Ich treffe eine Vene, Blut spritzt, und der Bauch wird zu einem roten See.
Lange habe auch ich mich auf die Kultur des Verdrängens geeinigt, mit der alle Tiere essen. Obwohl ich mich unter ihnen bisweilen wohler fühle als unter Menschen. Als Kind war ein Terrier mein bester Freund. Heute zählen zwei Retriever zu meiner Familie. Gleichzeitig habe ich rein statistisch 1,2 Kälber, 2 Rehe, 3Schafe, 4 Kühe, 195 Fische und 360 Hühner verzehrt. Um es in den Worten des Autors Richard David Precht zu sagen: Ich lebte schizophren; ich ahnte und verdrängte.
Jetzt ziehe ich dem Reh vorsichtig das Fell ab, als könnte es noch Schmerz empfinden. Ich zwinge mich, die Trennung zwischen dem Bambi und dem Rehschnitzel aufzuheben. Vegetarier sind im Herbst 2011 zwar noch so selten wie Veganer heute und die Generation Greta im Kindergartenalter. Aber ich lese das Buch «Tiere essen». Darin beschreibt der amerikanische Autor Jonathan Safran Foer die Fleischindustrie in allen hässlichen Details: 99,9 Prozent der Masthühner, 95 Prozent der Schweine und 78 Prozent der Rinder stammen aus Massentierhaltung. Sie leben in Enge, Langeweile und Angst. Vielen geht es mies. Sie sind krank und werden mit Chemie vollgestopft. Mit 34 realisiere ich zum ersten Mal, Teil eines Systems zu sein, das ich in ein Wort fassen kann: pervers.
Darüber denke ich in den Tagen nach, an denen wir das Reh metzgen. Je mehr es sich in Fleisch verwandelt, keinen Kopf mehr hat, keine Augen, keine Seele, wenn man so will, desto einfacher. Aus Ekel wird Widerstand und aus Widerstand das Natürlichste der Welt. Sogar der fleischelnde Geruch meines Haars. Fressen und gefressen werden, leben und sterben, der ewige Kreislauf, so sehe ich das.
Es ist der Beginn der Einteilung, die mein Essverhalten von nun an prägt: gute Haltung, schlechte Haltung, Fleischjagd, Trophäenjagd, gutes Fleisch, böses Fleisch. Es gibt auch ein Wort für das, was ich bin: Flexitarier. Selten Fleisch. Und wenn, nur gutes.
Es ist auch der Auftakt von mehreren Artikeln, die ich in den nächsten Jahren schreiben werde und die sich rückblickend als Phasen einer Metamorphose lesen oder als Antwort auf Fragen wie: In was für einer Welt will ich leben? Und was ist Wahrheit?
«Diese Frau wäre die perfekte Partnerin für Hannibal Lecter», lautet einer der Kommentare zu meinem Schlachttext. «Auch Lecter findet Befriedigung im Akt des Tötens. Pfui!» Dabei habe ich nur getan, was Metzger im Verborgenen tagein tagaus tun. Mir wird «Freude am Töten» unterstellt, als gäbe es Fleisch auch ohne Tod.
Dabei wurde das Reh von einem Wildhüter erlegt, durch einen sogenannten Hegeschuss, weil es alt und schwach war. Hätten wir ein Schwein geschlachtet, würde niemand mit der Wimper zucken. Es kümmert auch kaum einen, dass Schweine auf Schweizer Weiden ein rareres Bild abgeben als südamerikanische Lamas. Haften bleibt der Satz, den ich schon öfter gehört habe und der zu meinem nächsten Ziel wird: «Wer Fleisch isst, muss töten können.»
Ein halbes Jahr später ducke ich mich in die Wildnis von Kanada, mit Asche im Gesicht und voll von einem Spray, der mich geruchlos macht. Seit Tagen flüstere ich nur, um in der Landschaft zu verschwinden. Und nun höre ich es zum ersten Mal: «Ua Ua Ua» – den Brunftruf eines Elchbullen.
Er bleibt zwischen den Bäumen stehen, schaut nach links, nach rechts, den künstlichen Urin einer Elchkuh witternd, den auch ich meinen kanadischen Freunden zuliebe in die Büsche gesprüht habe.
Sie leben in der nördlichsten Ecke Kanadas, wo es mehr Elche als Menschen gibt. Der nächste Supermarkt ist rund 300 Kilometer entfernt. Sie leben «off the land», wie man hier zu sagen pflegt, als Selbstversorger und Jäger. Es geht nicht um ausgestopfte Hirsche an der Wand. Es geht um tierisches Protein bei Temperaturen bis zu minus 40 Grad. Trotzdem möchte ich jetzt am liebsten «Renn!» rufen.
Das Geschoss trifft den Elch mit einer Kraft von drei Tonnen. Es bohrt sich in die Lunge des 700-Kilo-Kolosses. Ich sage mir, dass er ein Leben in Freiheit lebte, von dem jedes sogenannte Nutztier träumen kann. Und, dass der Tod viel grausamer sein kann in dieser archaischen Natur, in der Bären trächtigen Elchkühen auflauern, um nach der Geburt über ihr Kalb herzufallen. Trotzdem ist es ist ein selten demütiger Moment, wenn so ein anmutiges Tier in sich zusammenkracht. Ich bin nicht die Einzige, die ein bisschen weint.
«Das Töten gibt einem den Respekt vor dem Fleisch zurück», sagen die Jäger später. Und ich finde: Stimmt. Auch wenn ich nicht an diesem brachialen Fleck Erde lebe, wo jeder ums Überleben kämpft. Ich muss kein Fleisch essen, aber ich will es. Als Kind habe ich gleich viel verzehrt wie mein Vater. Mein Lieblingsessen war Wiener Schnitzel. Und das wäre es bis heute, müsste dafür kein Tier sterben.
Das erste Mal töten ist überraschend emotionslos. Ich lerne es von dem Mann an meiner Seite, der Fliegenfischer ist: Knüppel suchen, an der richtigen Stelle zuschlagen, bloss nicht zögern. Eine Seeforelle, kein Fell, keine Tränen, keine Zeit, um darüber nachzudenken. Das Perfektionieren dieser Technik beschäftigt mich mehr als die Frage, ob töten können tatsächlich die Antwort auf mein Gefühl des Unbehagens ist.
Es ist die Zeit, in der die Sehnsucht nach Erde zwischen den Fingern erwacht. Urbanes Gärtnern wird erfunden, urbanes Bienenzüchten, urbanes alles. Es mag Folklore sein, dieses bewusster leben, ökologischer. Ein Weg, den nur ein winziger Teil der Weltbevölkerung einschlägt. Vielleicht ist es auch der Anfang einer neuen Gesellschaftsidee, denke ich, als ich ein Jahr später an einem Wasser stehe und diejenige sein will, die den Fisch für das Nachtessen fängt.
«Zu jung», sagt mein Mann beim ersten an der Angel, «zu wenig Gewicht» beim zweiten, so geht das weiter, und ich lasse einen nach dem anderen los. Bis etwas anbeisst, das ich kaum halten kann. «Zu gross», sagt er, und ich sage: «Den will ich.»
Ich lasse dem Fisch immer wieder die Leine, damit er schwächer wird und weniger um sein Leben kämpft. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich ihn an Land ziehen kann. Töten kann ich ihn auch nicht ohne Hilfe. Und als er dann vor mir liegt, 85 Zentimeter, ein Urtier aus der Tiefe, ist mir die Lust vergangen. Ich hatte die Wahl, dieses Geschöpf leben zu lassen. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Aus Instinkt, aus Abenteuerlust, schwer zu sagen. Ums Überleben ist es nicht gegangen. Wir haben genug Vorräte und jetzt das Problem, diesen mehrere Kilo schweren Fisch zu kühlen. Es ist eine Erkenntnis, von der noch die Rede sein wird: Das Töten war sinnlos. Ich bereue es bis heute.
Der Abend, an dem mein flexitarisches Konzept noch mehr ins Wanken kommt, beginnt im Sommer 2013 mit warmem Wind. Alle grillieren Steaks, ausser meiner ältesten Freundin, die sich als Veganerin outet. Kein Fleisch. Kein Käse. Keine Eier. Du? Ausgerechnet? In diesem Moment zieht unsere Jugend im Zeitraffer vorbei, das Restaurant ihrer Eltern, Lamm am Spiess, Sonntage, die daraus bestanden, uns den Bauch vollzuschlagen und Backgammon zu spielen. Auch ein paar Denkmuster werden jetzt auf den Kopf gestellt: Die Veganer, das sind nicht mehr die Baumumarmer und freudlosen Esser. Die Veganer, das sind jetzt auch meine älteste Freundin und ihre Schwester. Sie wollen überdies auch noch auf ihre gut bezahlten Medienjobs verzichten, um mit einem Restaurant den Hunger einer Gesellschaft zu stillen, die die Fleischindustrie auch satthat.
Was nun beginnt, sind ewige Diskussionen über Ernährung. Ich sage: «Ich bin auch gegen Massentierhaltung, aber Fleisch essen ist natürlich.» Sie sagt: «Wir fanden es auch einmal okay, Sklaven zu halten oder Kinder zu schlagen.» Ich sage: «Aber Fleisch gehört zu einer ausgewogenen Ernährung.» Sie sagt: «Das mag vielleicht für die Inuit zutreffen, die keine Alternativen haben. B12 ist das Einzige, was ich nicht übers Essen aufnehmen kann.»
In den nächsten Monaten beobachte ich mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis, wie sich meine Freundin in eine vegane Unternehmerin verwandelt. Dabei werde auch ich ein bisschen von diesem Aufbruch in eine Welt ohne Tierleid erfasst, die nichts mehr mit dem Mief von Reformhäusern zu tun hat. Bill Clinton lebt vegan oder Al Gore. In Berlin, dem europäischen Veganer-Mekka, gibt es bereits gut hundert Supermärkte und Restaurants.
Ich lerne mehr über Ernährung denn je. Man kann aus Weizenmehl Kebab machen und aus Hafermilch Pannacotta. Bananen können beim Backen Eier ersetzen und eine Mischung aus Öl und Wasser die Butter. Das Wichtigste: Es schmeckt.
Das alles löst in mir längere Phasen als Vegetarierin aus. Ich ersetze, was ich kann. Milch durch Hafer- und Sojamilch, weil ich es schlicht unsinnig finde, als 36-Jährige zu trinken, was die Natur für Kuhkinder vorgesehen hat. Aber ich will mir trotzdem nicht überlegen, wie schuldig ich bin oder was Parmesan auf Pasta ersetzen könnte. Ich will nicht verzichten. Vor allem nicht auf Käse.
Zwei Jahre später blicke ich in das Gesicht von einem Tier, das laut dem Autor Yuval Noah Harari zu den unglücklichsten Lebewesen gehört: grosse Augen, rotbraunes Fell, weisser Fleck auf der Stirn. Es ist die Kuh mit der Nummer CH 120.1106.2974.7 im Braunviehverzeichnis. An diesem Frühlingstag hat sie drei Zukunftsperspektiven: 1. Als Kälberlieferantin oder Milchproduzentin zu leben. 2. Auf einer Embryonen-Transferstation Leihmutter zu sein. 3. Der Schlachthof.
Das «NZZ-Folio» hat mich in diesen Schwyzer Hochleistungsstall geschickt. Geplant ist eine ganze Ausgabe über die Kuh. Im Editorial wird es heissen: «Wir mögen Kühe und kennen sie kaum. Um Milch zu geben, müssen sie Jahr für Jahr ein Kalb gebären: Das erstaunte die Hälfte der Redaktion.»
Wie lange auch ich an die Legende von der Immer-Milch-gebenden-Kuh geglaubt habe, weiss ich nicht mehr. Sie hält sich hartnäckig, als gäbe es auch diese hässliche Wahrheit nicht: Weil wir Milch trinken, können die Kälber sie nicht trinken. Insbesondere die männlichen sind Abfallprodukte. Milchrassen setzen zu wenig Fleisch an, also werden sie kurz nach der Geburt getötet.
Dieses abstrakte Wissen wird unangenehm konkret auf dem Hof des Bauern, der die Milchleistung seiner Kühe in den letzten 20 Jahren um 30 Prozent steigern konnte. Es geht nicht mehr um eine anonyme Tiermasse, sondern um die Kühe in dem Pferch vor mir, die mit ihren rauen Zungen unsere Hände ablecken.
Vielleicht ist es das, was meine Freundin als rote Pille versteht. Sie hat sich Filme wie «Earthlings» angesehen, vor denen ich mich immer gefürchtet habe. Dafür besichtige ich jetzt das System, das mit einer Plakette über dem Stalleingang ausgezeichnet wurde. Er stammt vom 100’000-Liter-Klub. Früher haben die Kühe hier in einem Leben 70’000 Liter Milch gegeben, jetzt sind 120’000 das Ziel.
Ein Fehler in diesem System ist die Kuh 120.1106.2974.7. Entstanden aus einer Paarung der Hochleistungskuh Dea und Big Star, einem von 586 Stieren im Katalog von Swissgenetics. So heisst die Genossenschaft, die seit 1960 mit Samen und Embryonen handelt.
Big Star, 45 Franken pro Samendose, hat Dea nicht bestiegen. Den Job erledigt einer von 250 Besamern, ein sogenannter «Köfferlimuni» auf zwei Beinen. Das Kalb, «Beauty», nach der Geburt von Dea getrennt, aufgewachsen in einem Kälberiglu, hat entgegen allen Erwartungen einen weissen Fleck auf der Stirn, das beim Braunvieh nicht vorgesehen ist. Zudem ist der Bauch zu klein, um nach dem Kalben genug Futter in Milch zu verwandeln. Jetzt kann sie höchstens noch als Leihmutter «hochwertige» Embryonen austragen.
Als ich nach Hause fahre, ist mir schlecht. Nein, mit der Welt aus der Werbung hat die Milchproduktion 2.0 nichts mehr tun. Und mit meiner viel- beschworenen Natur noch weniger. Von nun an ist es Beauty gegen Mozzarella auf meiner Pizza, Beauty gegen mein Fondue in den Bergen. Beauty gegen die Macht der Gewohnheit.
Als im Dunkel der Nacht der Schlachthof erwacht und die Lastwagen anrollen, als Kühe panisch von der Rampe blicken und die Schweine schreien – kann ich die Entscheidung nicht länger aufschieben.
Es ist der 3. September 2018. Im Scheinwerferlicht des Zürcher Schlachthofs beginnt ein normaler Tag im Zeitalter des Fleisches. Montag. Schweinetag. Es ist auch der Tag, an dem ich beschliesse, mein erstes Leben hinter mir zu lassen und nicht mehr Teil davon zu sein, was hier geschieht.
Schweine sind laut. Sie werden nicht leise zu Fleisch. Sie quieken und brüllen und klingen wie Menschen. Auch Schafe und Kühe werden angekarrt, ein Lastwagen nach dem anderen. Rinder werden mit Stöcken die Rampe hinauf geschlagen. Sie wollen instinktiv zum Ausgang flüchten. Darum sind Schlachtwege kreisförmig angelegt. Sie sollen die Tiere glauben lassen, sie gingen dem Leben entgegen und nicht dem Tod, der hierzulande jährlich rund 76 Millionen Tiere ereilt. 209 377 pro Tag.
Seit Wochen recherchiere ich in der Tierrechtsbewegung. An der Schlachthaus-Nachtwache will ich mehr über die Veganer herausfinden, denen es nicht mehr reicht, in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Weil das Schlachten weitergeht. Sie nennen sich auch Antispeziesisten und kämpfen gegen das Diskriminieren von allen Lebewesen, mit denen wir die Leidensfähigkeit sowie den Lebenswillen teilen.
Die Aktivisten von Zurich Animal Save zum Beispiel stehen regelmässig vor dem Zürcher Schlachthof. An Mahnwachen des globalen Save Movements wollen sie den Tieren ein Gesicht geben. Die Mitstreiter von Anonymous for the Voiceless agieren schon in 18 Schweizer Städten, um Schlachtvideos und die ökologischen Folgen des Fleischkonsums zu thematisieren. Die Tierrechtsorganisation Tier im Fokus deckt unter anderem fragwürdige Praktiken auf. Zuletzt den «Hühnerschwindel» mit Videos von Hühnern im Dreck oder Hühnern, die unter der Last ihrer grossgezüchteten Brust zusammenbrechen.
Man könnte diese Liste um unzählige Namen, Organisationen und Aktivismusformen erweitern. Allen gemeinsam ist, dass sie als Radikale gesehen werden. Radikal ist aber auch die industrielle Fleischproduktion. Würden alle Menschen sehen, was sie sehen, wäre die Massentierhaltung tot.
«Die Logik ist klar: Wer nicht ganz konsequent ist, der ist ein Heuchler. Wer konsequent ist, der ist ein Fanatiker.»
Vegan werden ist wie eine Reise in ein neues Land. Eine Art Landkarte liefert die VeganChallenge von Tier im Fokus, deren Website so etwas wie die Drehscheibe der Tierrechtsbewegung ist. Einmal angemeldet, bekomme ich täglich Rezepte, Einkaufs- oder Literaturtipps, einen Monat lang. Vegan leben ist für mich jetzt mehr gewinnen als verzichten. Ich tausche Käse gegen Cashew-Käse, Hefeflocken gegen Parmesan, ein schlechtes Gewissen gegen ein Leben im Einklang mit meinen Werten. Es ist befreiend.
Vielen erzähle ich davon nicht. Veganer sind eine Provokation, weil sie Fleischesser mit ihrem schlechten Gewissen konfrontieren. Ich habe nie jemanden sagen hören, ist egal, was wir mit den Tieren machen. Ich esse sie so oder so. Man kann es nicht besser beschreiben als Bernd Ulrich im «Zeit»-Magazin: «Es ist ein wenig so, als wenn jemand zum Christentum übertritt und dann von allen gefragt wird, ob er von Stund an lebt wie Jesus Christus. Die Logik ist klar: Wer nicht ganz konsequent ist, der ist ein Heuchler. Wer konsequent ist, der ist ein Fanatiker.» Ich bin beides.
Eine Heuchlerin bin ich, weil ich einmal Raclette und zweimal Fondue gegessen habe. An Einladungen weise ich noch nicht darauf hin, dass ich Pappardelle ohne Ei bevorzugen würde, und in Restaurants esse ich auch vegetarisch, wenn es nichts anderes gibt. Gegen solche Inkonsequenzen gehen Fleischesser geradezu detektivisch vor. «Ah, mit Butter verfeinerten Risotto isst du trotzdem?», heisst es dann etwa, oder: «Und was ist mit deinen Lederboots?»
Eine typische Konversation geht so: «Findest du es nicht dekadent, darüber nachzudenken, ob man Tiere essen darf?» Ich antworte dann: «Als dekadent erachte ich in Zeiten des Klimawandels vielmehr, nicht darüber nachzudenken.» Für den Anbau von Tierfutter wird Regenwald abgeholzt. Zwei Drittel des globalen Agrarlandes wird für die Massentierhaltung verwendet, und Veganer tragen 40 Prozent weniger als Fleischesser zur Erderwärmung bei, die im Übrigen nicht mich besonders hart trifft, sondern diejenigen an den ärmsten Enden des Planeten. Seit die Klimajugend allen erklärt, dass Veganer die Welt langsamer in den Abgrund reiten, höre ich dieses Argument weniger. Danke Greta.
Was mich mehr beschäftigt, ist meine Rolle als Fanatikerin. In der Stadt kann ich gut damit leben, eine Öko-Spiesserin zu sein. Schwieriger wird es in dem Bündner Bergdorf, in dem ich zur Hälfte der Zeit wohne. Weit weg von den Bioläden mit den veganen Glacen und den Kulturbürgern, die ihren Kindern im Zoo-Restaurant Chicken-Nuggets bestellen, unter Menschen, die dieses Land weit mehr ausmachen. Natürlich hält mich mein Engadiner Nachbar für verrückt, weil ich seine Kälber nicht essen will. Wären meine Eltern Bergbauern, würde ich rein sozialisationsbedingt auch über mich den Kopf schütteln. Typisch Unterländer, entfremdet von der Natur, völlig verweichlicht.
Trotzdem scheint er mich zu respektieren, weil kaum jemand so viel über seine Arbeit und seine Tiere wissen will. Stier Nico lässt mich in den Stall, die Kuh Albula muht zur Begrüssung, und die Kälber, die nach zehn Monaten geschlachtet werden, saugen an meinen Fingern. Inzwischen tausche ich mich zudem öfter mit dem Schafbauern aus, dessen Tiere auch wie in der Werbung leben. Leicht sei es für ihn sicher nicht, seine Lämmer wegzugeben. «Aber wovon soll ich leben?», sagt er.
Die Zukunft dieser Bauern beschäftigt mich mehr als jene Tierrechtler, die sich in Ideologiekämpfen kannibalisieren. Manche gehören zu den engagiertesten und intolerantesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. An der Demonstration zur Abschaffung der Nutztierhaltung verteilte etwa die Tierrechtsgruppe Zürich einen Flyer, auf dem es heisst, die Mitinitiantin der Massentierhaltungsinitiative trage zur Lüge vom «humanen Tod» des «Bio-Schweins» bei. Ausgetragen wird damit auch ein alter Positionsstreit in der Bewegung, Tierschutz contra Tierrecht, bessere Lebensbedingungen contra nicht töten dürfen – als ob man eine jahrtausendalte Tradition quasi von heute auf morgen abschaffen könnte.
Umgekehrt wiederum bewundere ich die Energie von Vollzeitaktivisten wie Sophie Benker. Auf der globalen Plattform «Those Who Love Peace» will sie alle Gruppen miteinander vereinen, um für die Befreiung der Tiere zu kämpfen. Vielleicht zählt sie zu den Wegbereitern einer neuen Zeit. Die französischen Aufklärer machten auch nur einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung aus. Sie gehörten zur Oberschicht, aber sie haben die bürgerliche Gesellschaft geprägt. Und jede neue Idee, das wissen wir jetzt auch schon länger, wird zuerst verlacht und bekämpft, bevor sie schliesslich selbstverständlich wird.