«Die Rentiere sterben»

NZZ, 24. Februar 2017
Fotos von Annick Ramp
Vor hundert Jahren standen die Samen zum ersten Mal gegen die koloniale Unterdrückung auf. Heute versuchen die Indigenen ihre Herden vor Wölfen, Windrädern und dem Klimawandel zu retten.

Ohne Verddevuohta würde es vielleicht keine Samen mehr geben. Es heisst: Wer die Menschen aus dem Eis verstehen will, muss dieses Wort begreifen. Es stammt aus dem Nordsamischen und umschreibt die Beziehung, die auch die 200 aufgebrachten Samen an dieser Rentier-Konferenz miteinander verbindet. Den Herdenbesitzer Nils Tonny Bransfjell zum Beispiel und die Aktivistin Jannie Staffansson.

Sie sitzen an unterschiedlichen Enden des Saals und kennen sich nicht. Er hat in den Wintermonaten seine Herden vor Wölfen beschützt. Sie ist zum Weltklimagipfel in Marrakesch gereist.

Trotzdem würde Nils für Jannie einstehen und Jannie für Nils. Das ist Verddevuohta. Auch wenn eine Generation zwischen ihnen liegt. Auch wenn sie durch Staatsgrenzen getrennt sind, die für die Ureinwohner nie gegolten haben. Vielleicht sind die Samen auch deshalb Überlebenskünstler einer Gesellschaft, die gnadenloser sein kann als die Natur.

«Wenn es ums Geld geht, werden wir vergessen!», ruft eine Hirtin den Politikern auf dem Konferenz-Podium zu und reicht das Mikrofon unter Applaus weiter: «Warum wird unser Wissen nicht in die Planung von Grossprojekten einbezogen?», fragt der Nächste, und so geht das immer weiter, bis auch Nils Tonny Bransfjell aufsteht: «Müssen alle unsere Kinder Jura studieren, damit wir zu unserem Recht kommen?»

Vor wenigen Stunden hat im norwegischen Trondheim mit traditionellem Joik-Gesang diese Konferenz begonnen. 200 Samen diskutieren zwei Tage lang mit 100 Forschern und Politikern über das Thema «Rentierherden in 100 Jahren». Jetzt ringen sie um Worte für einen Gesellschaftswandel, der einmal mehr alles bedroht, was sie sind.

Seit 10 000 Jahren besiedeln die nordischen Ureinwohner ein Gebiet, das sich auf Norwegen, Schweden, Finnland und Russland verteilt. Es ist grösser als Deutschland und erstreckt sich von der norwegischen Küste über den Polarkreis bis zur russischen Kola-Halbinsel. Seen, Wälder, Tundra, Seen, Wälder, Tundra, als gäbe es nichts anderes.

Es geht um rund 400 000 Quadratkilometer, die hart umkämpft sind. Das waren sie schon im späten Mittelalter, als die Königshäuser Dänemark-Norwegen, Schweden-Finnland und Russland mit der Unterwerfung der sogenannten Lappen begannen. Jahrhundertelang duckten sie sich, bezahlten Steuern und gaben ein Jagd- und Landrecht nach dem anderen ab. Bis zum 6. Februar 1917. Damals versammelten sich die Samen zum ersten Mal in Trondheim, um länderübergreifend gegen die Unterdrückung aufzustehen. Und jetzt, hundert Jahre später, sind sie wieder in diese Stadt gereist, die in ihrer Sprache Tråante heisst. Eine Jubiläumswoche lang leuchten ihre bunten Trachten an Konzerten, Ausstellungen und Konferenzen. Hier wollen sie feiern und ihre Bande in die Zukunft tragen, ihr Land – sie nennen es Sápmi.

Nils Tonny Bransfjell ist ein herzlicher Mann, der sich mit Vornamen und kräftigem Händedruck vorstellt. Im Gesicht trägt er die Spuren des Wetters, das im eisigen Norden auf nichts Rücksicht nimmt. Der 50-Jährige ist eher klein, aber robust wie viele Samen. An seiner dunkelblauen Tracht und den Streifen am Kragen können seine Landsleute ablesen, dass er aus den südöstlichen Bergen um Røros stammt.

Er und seine Söhne verkaufen im Jubiläumszelt auf dem Marktplatz Rentierfleisch. Das Geschäft läuft, in der Früh musste Nils Nachschub holen. Danach ist er zum Hotel Scandic Lerkendal gefahren. Mit 21 Stockwerken ist es das höchste von Trondheim und erhebt die Samen einmal über alle anderen. Hier tagt diese Woche der Samen-Rat, hier finden Konferenzen statt und eine Gala mit 600 Gästen, zu denen der kanadische Botschafter zählt oder der Staatsminister Singapurs. Was in der Arktis-Region geschieht, beschäftigt heute die ganze Welt.

Es ist, als habe jemand zwei Motive zusammengeklebt: Frauen mit Hauben tippen auf ihren Handys herum, Männer in Lederhosen stehen neben Anzugträgern am Buffet. Auch Nils lädt sich vor der Konferenz einen Fleischberg auf den Teller und beginnt von seiner Leidenschaft zu erzählen, den Rentieren.

Rangifer Tarandus. Weiches, dichtes Fell, hell- bis dunkelbraun. Die einzige Hirschart, die nördlich des Polarkreises leben kann. Die Männchen werden bis zu 180 Kilo schwer, und auch die Weibchen tragen Geweihe. Auf der Suche nach Futter sind sie ständig in Bewegung. Seit Jahrhunderten wandern die Herden auf denselben Routen. Im Sommer ziehen sie in Küstengebiete, um im Wind des Eismeers den Mücken zu entfliehen. Im Winter suchen sie das geschützte Klima im Landesinneren.

Nils‘ Eltern waren Halbnomaden, wie seine Grosseltern und Urgrosseltern. Sie folgten Rentieren, die mit jedem Fusstritt ein knisterndes Geräusch machen und Herden wie Waldbrände klingen lassen. «So klingt die Stille», sagt Nils, der auch bei minus 40 Grad am liebsten draussen ist, «da fühle ich mich lebendig.»

Ohne die Rentiere hätten die Ureinwohner in den archaischen Weiten wohl kaum überlebt. Die Hirtenfamilien waren ebenso aufeinander angewiesen. Und so, heisst es, sei der Zusammenhalt von Verddevuohta entstanden. Ich helfe dir, und du hilfst mir. Im Rhythmus der Jahreszeiten, Herden folgen, Kälber markieren, schlachten. Das ist heute noch so, ausser dass Nils in Häusern lebt und mit Schneemobilen unterwegs ist. «Rentiere sind mein Leben», sagt er, «manchmal fühle ich mich selber wie eines.»

An der Konferenz sind die Plätze bis in die hintersten Reihen besetzt. Ganze Sippschaften sind da, von Babys bis zu Grossmüttern. Fernsehteams filmen, wie der Landwirtschaftsminister vom «Potenzial der Rentierindustrie» spricht. Anschliessend erinnert die Menschenrechtsvertreterin der Uno an die Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. In Norwegen werden die Samen als gleichberechtigtes Volk angesehen, die Nutzungsrechte für das Staatsland müssen jedoch immer wieder verhandelt werden. Das füllt die Schlagzeilen und befeuert die Politik.

Auf dem Podium bringt Katrina Rønningen, Agrarforscherin an der Universität Trondheim, die Fronten zur Sprache: Der Druck auf die Weidegebiete wächst mit alten und neuen Interessen. Er wächst mit Ansprüchen von Schafbauern oder Touristikern. Er wächst mit einer urbanen Bevölkerung, die in der Natur Erholung sucht. Er wächst mit geschützten Raubtieren wie Wolf, Luchs oder Adler. Der Druck wächst zudem mit internationalen Interessen und Bedürfnissen nach Rohstoffen oder Energie. Ab 2020 soll Norwegen so etwas wie das grüne Kraftwerk Europas werden, mit 278 Windrädern ist der grösste Onshore-Windpark geplant.

Jeder dieser Schritte nach vorn kann für Menschen wie Nils einer zurück sein. Sie betonen zwar, wie viel die Rentiere aushalten. Wie gut sie sich über die Jahrhunderte an die Kälte angepasst haben und wie stark ihre Instinkte sind. So stark, dass sie ihre Kälber abstossen, wenn sie zu wenig Reserven haben. Gleichzeitig geben jetzt aber auch Rentierforscher wie Jonathan Colman von der Universität Oslo zu bedenken, dass sich die halbwilden Tiere schon vor Wanderern fürchten. Windräder am falschen Ort können Herden für immer von ihren Weideflächen abschneiden.

So werden hier stellvertretend Antworten auf Fragen gesucht, die sich auf der ganzen Welt stellen: Wie viele Rechte muss eine demokratische Gesellschaft ihrer indigenen Bevölkerung zugestehen? Wie viel Rücksicht nehmen gegenüber jenen, die jahrhundertelang diskriminiert worden sind? Wie kann das Zusammenleben für alle stimmen?

Wenn Nils am Ende der Woche mit seinem jüngsten Sohn, Piere-Oula, in die Berge fährt, wo sein rotes Holzhaus in der Mondnacht steht, dann wird er enttäuscht sein. Weil an der Konferenz keine Zugeständnisse gemacht wurden. Er wird sagen, dass die Europäer keinen Strom aus Norwegen brauchen, und das tun, was er immer tut: einheizen und ein Stück Fleisch in die Pfanne werfen, so dass es bald nach Holz und Gebratenem riecht. «Europa hat eine lange Küste, Frankreich, die Niederlande, Belgien, Litauen. Warum bauen sie die Windräder nicht ins Meer? Warum hier?»

Auf einer Foto an der Wand sind Nils‘ Eltern zu sehen. Der Vater sieht in seinem Anzug aus wie ein Geschäftsmann. Er war auf einem der Umerziehungs-Internate, wo es für jedes samische Wort Schläge gab. Mit dem Sprachverbot ging auch eine Sicht auf die Welt verloren, die keine Zweiteilung in Natur und Zivilisation kennt. Dafür rund tausend Begriffe für Rentiere. Von elf samischen Dialekten sind fünf ausgestorben. Viele Samen vermeiden es immer noch, in der Öffentlichkeit Samisch zu sprechen. Nach Dekaden der Unterdrückung ist Identität auch eine Wahl.

So ist schwer zu sagen, wie viele Samen es noch gibt. Eine verbreitete Schätzung geht von 100 000 Menschen aus. Im Vergleich zur restlichen Bevölkerung wären sie damit eine Minderheit von unter 5 Prozent, wobei die Rentierhalter die Minderheit der Minderheit sind. Nur noch 10 Prozent sollen allein von den Herden leben. Trotzdem sind die Rentiere ein Natur- und Kulturgut, für das alle kämpfen, als ginge es um ihr Leben.

«Wir haben gute Anwälte», sagt Nils mit der Gelassenheit von einem, der schon in der Schule kräftiger war als die anderen Kinder. Der alles kann, was es zum Überleben braucht. «Aber ich habe Angst», sagt Nils, nachdem er erzählt hat, wie er sich Grosskonzernen und hungrigen Wölfen in den Weg stellt. «Was, wenn es hier zu heiss wird für die Rentiere? Wenn Schlangen in den Norden kommen oder Insekten Krankheiten bringen?»

In den Bergen ist es in diesen Tagen minus 25 Grad kalt. Die Herdenhalter in tieferen Lagen warten jedoch vergeblich auf Schnee. Was der Wandel für Rentierleute bedeuten kann, hat die Aktivistin Jannie Staffansson der Welt am Pariser Klimagipfel klargemacht. Im Netz gibt es ein Video von diesem Auftritt. Sie ist 27 Jahre alt, sieht aus wie eine Elfe und sagt Sätze wie «Ich bin das Gesicht der wütenden Sami» oder «Wir sind diejenigen, die sterben!».

Jetzt hetzt Jannie von der Rentier-Konferenz zum «EU Arctic Stakeholder Forum». Sie arbeitet für den Samen-Rat, der sich als NGO für die Rechte der Indigenen Europas einsetzt. «Ein Interview? In diesen Tagen noch?», fragt sie ungläubig und scrollt sich durch den Wochenkalender auf dem Smartphone: Jubiläumskonzert, Rentier-Konferenz, Arktis-Forum, Samen-Kongress, Nationalfeiertag, Gala.

Jannie trägt eine Mischung von Stolz und Misstrauen im Gesicht, die man leicht mit Arroganz verwechseln könnte. Sie ist klein, aber die aufrechte Haltung lässt sie grösser erscheinen. «Morgen um 7 Uhr», sagt sie, macht rechtsumkehrt und geht mit schnellen Schritten davon.

Jannie stammt aus Schweden, wo die Samen schlechtergestellt sind als in Norwegen. Bis heute haben weder Schweden noch Finnland das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet, das indigenen Völkern rechtsverbindlichen Schutz der Grundrechte sichert. Ein Ausdruck der Schwierigkeiten ist, dass sich doppelt so viele samische Jugendliche das Leben nehmen wie schwedische. Das hat auch mit den Folgen des Klimawandels zu tun, die das Überleben für Tiere und Menschen schwieriger machen.

«Es ist, als ob sich die Welt schneller drehen würde», sagt Jannie am nächsten Morgen. Vor den Glasfenstern des Konferenzhotels ist es noch stockdunkel. Gestern hat sie bis spät mit EU-Leuten zu Abend gegessen, jetzt sitzt sie schon wieder an ihrem Laptop, auf dem Rentier kleben.

Jannie ist mit den Herden aufgewachsen und lebt mit einem Hirten. Sie sagt: «Die Pflanzen sind gestresst, die Tiere sind gestresst, die Winde sind gestresst, wir sind gestresst, alles hetzt durch die Jahreszeiten, und manchmal fallen sie einfach weg.»

Die Temperaturen können von minus 40 Grad in der Nacht auf plus 3 Grad schnellen. Es fällt oft Regen statt Schnee, die Weiden gefrieren. Wo sich aber Eis bildet, können die Rentiere nicht mehr nach Flechten graben. Dann ist es, als ob ihr Futter hinter einer Glasscheibe wäre.

In Sibirien verhungerten 2013 auf diese Weise 61 000 Tiere. Zudem haben Forscher bei Spitzbergen beobachtet, dass Rentiere auch schrumpfen. Ihr Durchschnittsgewicht ist in den letzten sechzehn Jahren um 12 Prozent zurückgegangen.

Jannie sagt, dass sie die Herden in andere Gebiete treiben. Aber das ist gefährlich geworden. Auch die Samen können die Natur inzwischen schlechter lesen und weniger genau voraussagen, wo die Bedingungen besser sind. Zusätzliches Futter kostet Geld. Zudem müssen die Rentiere vorab daran gewöhnt werden, sonst vertragen sie es nicht. Die Schwachen bleiben auf der Strecke. Manchmal brechen sie auch auf Flüssen oder Seen ein, ganze Herden auf einmal. An ihrer Seite ist auch Jannies Tante ertrunken. «Die Rentiere sterben», sagt Jannie, «und wir sterben mit ihnen.»

Sie erzählt das ohne wehleidigen Ton. Jannie war noch klein, als sie beim Schlachten der Rentiere dabei war, bei dem alle Familienmitglieder gebraucht werden. Kinder rühren das warme Blut in den Kesseln, damit keine Klumpen entstehen und man daraus Pfannkuchen machen kann. «Als Sami wird man sehr schnell erwachsen», sagt sie.

Später bat sie ihren Vater, den Forschern klarzumachen, was mit dem Wetter passiere. «Aber ich habe keinen Universitätsabschluss», sagte er, «auf mich hört keiner.» Das Wort Klimawandel kannte damals fast niemand. In den Nachrichten waren noch keine Eisbären zu sehen, die auf Schollen im Meer treiben. Darum wollte Jannie studieren. Die Leute vertrauen der Forschung, sie wollen Fakten. Heute sagt sie: «Ich kämpfe für das Überleben der Rentiere und das Überleben unserer Kultur.»

Von dieser Entschlossenheit hat auch Gunn-Britt Retter gehört. Sie ist 45, gross, blond, furchtlos. Eine Frau, die an Jeanne d’Arc erinnert und sich jetzt auch an den Frühstückstisch setzt.

Gunn-Britt beschreibt sich als politisches Tier, das sich seit sechzehn Jahren mit Fragen zur Arktis beschäftige. Sie war es, die Jannie in die Umwelteinheit des Samen-Rats holte. Gunn-Britt ist die Chefin, Jannie die Assistentin. Die Hierarchien sind jedoch flach, jeder trägt Verantwortung. Beide haben Masterabschlüsse, wie viele Samen-Frauen, die das Überleben der Familien schon früher mit Zusatzjobs sichern mussten. Und die samische Sprache kennt sowieso kein «er» oder «sie».

Seit 1956 gibt es den Samen-Rat. 1975, als auf der ganzen Welt für Menschen- und Frauenrechte gekämpft wurde, entstand der Weltrat der indigenen Völker. 1979 haben die Samen in Norwegen mit Hungerstreiks gegen den Bau des Alta-Staudamms protestiert. «Ein Wendepunkt», sagt Gunn-Britt, die damals vor dem Fernseher gesessen ist und gemerkt hat, dass es auch anders geht, gehen muss.

Und mit derselben Entschlossenheit fahren die beiden Aktivistinnen auch heute, am eisblauen Morgen des 6. Februars, ins Zentrum von Trondheim, wo vor hundert Jahren alles begann.

Der Nationalfeiertag ist der Höhepunkt dieser Jubiläumswoche. Gunn-Britt und Jannie machen keine zögerlichen Schritte. Auf ihrem Marsch in die Zukunft setzen sie selbstbewusst einen spitzen Stiefel vor den anderen, im Wissen, wie weit sie gekommen sind und wie viel weiter sie noch kommen wollen: Das Siedlungsgebiet der Samen, erklärt Gunn-Britt, sei eine Art Nationalpark. Die Samen haben die Erlaubnis, darin zu arbeiten und zu leben. Sie sitzen zudem im Management und kämpfen auch auf globaler Ebene dafür, dass das so bleibt. «Wir wollen nicht Herr der Natur werden», sagt sie, «sondern Teil davon sein.»

Wo einst eine Handvoll Samen das Recht auf Land forderten, gehen heute Hunderte durch die gepflasterten Strassen, Schulter an Schulter, dem Hauptplatz entgegen, wo sich die Leute zu einer Bühne drängen wie an einem Rockkonzert.

«Was für eine Mobilisierung», sagt Gunn-Britt, als könnte sie immer noch nicht glauben, dass die Präsidenten der Samen-Parlamente ebenso auftreten wie die norwegische Ministerpräsidentin. Ihre Mutter durfte in der Schule kein Samisch sprechen, Gunn-Britt hatte keine samischen Schulbücher. Heute lässt die Linguistin 318 samische Schneebegriffe aufbereiten. Nicht nur, um traditionelles Wissen zu erhalten. In der Sprache sind uralte Wetterbeobachtungen verborgen, die heute auch für Klimaforscher von Bedeutung sind.

Die Samen leben in zwei Welten: im Damals und im Jetzt. So hat die amerikanische Fotografin Erika Larsen das «Volk von Wind und Sonne» beschrieben, bei dem sie vier Jahre gelebt hat. Es ist ein treffendes Bild für die neue Generation, die ihre Vorstellung von Zusammenhalt auf eine globale Ebene trägt und so schnell zwischen den Welten wechselt, wie Gunn-Britt nach dem Frühstück ihre Jeans gegen die Tracht getauscht hat.

Die Samen umarmen sich zur Begrüssung wie alte Freunde. Im Alltag schütteln sie Hände auf den Bühnen dieser Welt. Aussenstehende können den Überblick über all die internationalen Organe und Gremien, in denen sie sich engagieren, schwer behalten.

Jannie arbeitete vor ein paar Tagen für eine Arbeitsgruppe des Arktis-Rats. Wo der Samen-Rat mit acht Anrainern an einem Tisch sitzt, wollen auch immer mehr Staaten mitreden. Auch wenn sie keinen direkten Zugang zum Polarmeer haben. Wenn das Eis schmilzt, öffnen sich neue Möglichkeiten. Die Welt blickt nach Norden, das Rennen um Gebiete und Rohstoffe läuft. Jüngst hat sich auch die Schweiz um einen Beobachterstatus beworben.

Gunn-Britt kommt gerade aus Thailand, wo sie als Mentorin in einer Stiftung sitzt, die indigene Projekte auf der ganzen Welt fördert. Global gesehen, stehen die Samen an vorderster Front der indigenen Bewegung, die ihr Wissen auch in Trainingskursen in Asien und Afrika weitergibt. «Unsere Levels sind zwar sehr verschieden», sagt Gunn-Britt, «aber wir haben alle unter kolonialer Unterdrückung gelitten.»

Auf ihrer Agenda steht auch North Dakota, wo der grosse Showdown um eine Ölpipeline bevorsteht. Nach dem Erlass Trumps soll sie entlang eines Sioux-Reservats weitergebaut werden. Dagegen protestiert Jannie auf Facebook mit einer Foto, die sie vor einem See zeigt, in den Händen das Plakat mit der Aufschrift: «Water is life – no Dakota pipeline».

Der alte Eindruck, dass die Samen zu wenige sind, er schwindet. Über die sozialen Netzwerke sind sie mit Indigenen auf der ganzen Welt verbunden. Sie sehen sich nicht nur als Hüter ihrer Kultur, die so alt ist wie das Land – sondern als Hüter des Landes selbst und überhaupt des ganzen Planeten.

Seit Jean-Jacques Rousseau werden Ureinwohner zu edlen Wilden stilisiert, die quasi von Natur aus Naturschützer sind. Seit den Siebzigern führen Umweltschutzorganisationen Indianerhäuptlinge als fotogene Zeugen im Kampf gegen die Ausbeutung durch die Industrieländer vor. Die Bilder sind aktueller denn je. Die Guten gegen die Schlechten, die Indigenen gegen alle anderen. In Wahrheit ist es wie immer komplizierter als in Filmen wie «Avatar», wo ein Naturvolk mit dem Wald lebt, bis Städter die Ressource plündern und ein Paradies verwüsten.

Forscher relativieren die einseitige Wahrnehmung. Der Archäologe Steven LeBlanc zum Beispiel weist mit Funden darauf hin, dass auch amerikanische Ureinwohner Büffelherden über Abgründe in Schluchten jagten und nur einen Teil der Tiere verwerteten. Oder der Evolutionsbiologe Jared Diamond: In seinem Buch «Kollaps» beschreibt er, wie sich die Anasazi Südamerikas auslöschten, indem sie alle Bäume für den Anbau abholzten und ein Kanalsystem anlegten, das alles flutete. Alle Kulturen haben Auswirkungen auf Ökosysteme, nur waren jene der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften geringer und sind auch weniger aufgefallen. Heute werfen sogar die Samen Debatten über die Frage auf, wie viel Rentiere der Boden aushalten kann und wie viele zu viel sind.

Für Nils Tonny Bransfjell sind es genug. Der Herdenhalter stapft über sein Grundstück, wo Rentierköpfe im Schnee liegen und Felle an den Hütten hängen. Jetzt will er zeigen, was ihn fast so stolz macht wie die halbzahmen Böcke Njalke und Abakkus, die er manchmal mit dem Lasso einfängt und vor den Schlitten spannt: Von aussen ist es nur ein Kleinlastwagen, von innen ein topmodernes Schlachthaus. Eine der Maschinen kann den toten Tieren innert Sekunden das Fell abziehen. Damit fährt Nils in die Berge, damit seine Rentiere nicht merken, dass ihre letzte Stunde schlägt. «Sie sterben in Frieden», sagt Nils, «zu Hause.»

Die Tierliebe hat ihn zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gemacht. Inzwischen verkauft sich seine Erfindung auch sehr gut. Das Fleisch schmecke besser als das von Rentieren, die in Panik in Schlachthäuser gefahren würden. Einmal hat Nils tausend Kilo an das englische Warenhaus Harrods verkauft. Zwei Tage später kam der Anruf aus London mit einer Bestellung für zehn Tonnen. Nils lacht laut. «Zehn Tonnen! Die sind ja verrückt.» Warum den Gewinn maximieren? «Ich lebe gut. Und das reicht mir.»