«Die zivile Welt macht uns krank»

NZZ, 28. April 2017
Sebastian Junger weiss, warum viele Soldaten lieber bei ihren Truppen bleiben, als nach Hause zurückzukehren. Der Kriegsreporter über den Verlust der Stammeskultur – und dessen Gefahren für die moderne Gesellschaft.

Herr Junger, Sie sind als Abenteuerautor und Kriegsreporter berühmt geworden. In Ihrem neuen Buch «Tribe» schreiben Sie von der Sehnsucht nach einem Leben im Indianerstamm. Was ist passiert?

Ich habe einen Freund, der halb Lakota-Sioux, halb Apache ist. Vor Ewigkeiten hat er mir etwas Faszinierendes erzählt: Im 18. Jahrhundert haben viele weisse Siedler die Zivilisation freiwillig hinter sich gelassen, um bei den Indianern zu leben. Manche sind auch gefangen genommen worden und wollten nicht mehr befreit werden. Lieber haben sie an der Seite der Stämme gekämpft. Ich wollte herausfinden, warum. Vor allem als ich dasselbe Phänomen in Afghanistan beobachtet habe: Soldaten, die nicht mehr nach Hause wollten.

Indianerleben oder Schützengraben – warum tut man sich so etwas freiwillig an?

Die Zivilisation ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Trotzdem weisen Studien darauf hin, dass Menschen in kleinen Stammesgemeinschaften besser funktionieren als in der Anonymität der modernen Gesellschaft. Wir sind immer noch menschliche Tiere und als soziale Primaten auf ein Leben in Kleingruppen getrimmt. Und wenn man einen Schimpansen alleine in einen Käfig sperrt, zeigt er bald verschiedene Formen von seelischem Stress. Dasselbe gilt für Menschen im Zivilisationsalltag. Oder Soldaten, die lieber in der Gemeinschaft der Truppe bleiben.

Wie unterscheidet sich das Truppenleben denn vom Leben in der Gemeinschaft zu Hause?

Die emotionalen Bindungen sind viel enger. Wer so nah zusammenlebt wie die Platoons, wiederholt die evolutionäre Vergangenheit. Die Menschheit hat sich in Stammesgesellschaften von 30 bis 50 Leuten entwickelt, die nebeneinander geschlafen, miteinander gegessen und gekämpft haben. Alles wurde geteilt, sogar die Kindererziehung. Das Überleben war von der Gruppe abhängig. Truppeneinheiten funktionieren ähnlich. Diese Zusammengehörigkeit ist für Soldaten unglaublich wichtig.

So wichtig, dass sie nicht mehr nach Hause wollen?

Es mag verrückt klingen, aber sie kehren von starken Gemeinschaften in politisch gespaltene Länder zurück, in ökonomische Schichten und anonyme Siedlungen, in denen jedes Haus vom anderen getrennt ist, jedes Kind sein eigenes Zimmer hat und niemand den Nachbarn kennt. Die zivile Welt scheint frei und ist vermeintlich sicher, sie ist aber auch unmenschlich und macht krank.

Inwiefern?

Nur noch 10 Prozent der amerikanischen Soldaten sind heute in direkte Kampfhandlungen involviert, 25 Prozent leiden jedoch nach ihrer Rückkehr an posttraumatischen Belastungsstörungen. Das legt die Vermutung nahe, dass nicht nur der Krieg das Problem ist, sondern auch der Frieden. Beziehungsweise der Übergang von einer starken Gemeinschaft in eine hyperindividualisierte Gesellschaft.

In den USA gehen viele zur Armee, weil sie aus sozial schwachen Verhältnissen stammen oder keine andere Perspektive haben. Welchen Einfluss haben Prädispositionen auf diese Zahlen?

Natürlich neigen vorbelastete Menschen eher zu emotionalem Stress und erholen sich schwerer von Traumata. Aber Rückkehrer der Friedenstruppen zeigen ebenso hohe Depressionsraten wie die Soldaten. Überhaupt nehmen Depression oder Selbstmord mit steigendem Wohlstand zu. In Stammesgesellschaften gibt es diese sozialen Krankheiten nicht.

Womöglich sind die Menschen einfach zu sehr mit Überleben beschäftigt?

Natürlich. Wer zu viel Zeit hat, kann sich in viele Zustände denken. Fachleute nennen das obsessives Nachsinnen. Im Krieg überlebt man einfach und ist psychologisch gesünder. Man darf nicht vergessen, dass das menschliche Tier auch genetisch darauf vorbereitet ist – dass wir uns in einem Umfeld der kontinuierlichen Gefahr und Not entwickelt haben. Fällt das weg, sind die Auswirkungen offensichtlich nicht nur positiv.

Aber wie kann es sein, dass wir geistig immer noch am Lagerfeuer sitzen?

Evolution funktioniert nur sehr langsam. Unsere Genstruktur hat sich in 20 000 Jahren nicht signifikant verändert. Jäger-Sammler-Gesellschaften haben erst vor 10 000 Jahren angefangen, sesshaft zu werden. Und die industrielle Revolution ist erst ein paar hundert Jahre alt. Das ist im Vergleich zur menschlichen Evolution nicht lange her.

Einer für alle, teilen statt besitzen, Gemeinschaft statt individueller Profit: Sie beschreiben die Stammeskultur als soziales Eden. Es gibt aber auch viele Historiker, die den Mythos des edlen Wilden relativieren.

Es geht hier nicht um meine persönliche Meinung. Ich zitiere historische Quellen und Zeitgenossen. Und die haben beobachtet, dass sich mehr Siedler zu den Indianerstämmen hingezogen fühlten als umgekehrt.

Gut möglich, dass umgekehrte Fälle schlicht nicht dokumentiert worden sind, zumal man die Anpassung an eine urbanere Lebensweise als logisch empfunden hätte.

Mag sein. Dafür gibt es aber keine Beweise.

Können moderne Stammesformen wie Sportmannschaften oder Parteien den Verlust von Gemeinschaft nicht teilweise ersetzen?

Ich glaube nicht. Wenn man den Begriff Stamm wörtlich nimmt, ist darunter eine kleine Gruppe zu verstehen, die nah zusammenlebt und füreinander sehr unterschiedliche Aufgaben erfüllt. Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen ähnliche Muster temporär gelebt werden. In Skilagern zum Beispiel. Auch Katastrophen können die Menschen näher zusammenbringen.

Zum Beispiel?

Nach 9/11 ist die Mordrate in New York um 40 Prozent gesunken, und auch die Selbstmordrate ging zurück. Wenn die Gesellschaft als Ganzes traumatisiert wird, rücken die Menschen wieder zusammen. Das Seltsame ist, dass sie trotz den schrecklichen Umständen nostalgisch werden und diese Zeiten im Nachhinein vermissen.

Warum verändern uns solche Erlebnisse nicht nachhaltiger, wenn die Sehnsucht nach dem Stamm tatsächlich so tief in uns verwurzelt ist?

Meistens gehen die Leute zurück in ihren hyperindividualisierten Alltag. Aber es gibt immer wieder Menschen, die diese Urformen des sozialen Lebens erhalten wollten. Während des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel haben die Londoner in U-Bahn-Stationen zusammengelebt. Interessanterweise wollten manche da auch wohnen bleiben, als der Krieg vorbei war. Sie mussten von der Polizei nach Hause gebracht werden.

Warum lassen uns kollektive Bedrohungen wie der Klimawandel nicht stärker zusammenrücken?

Weil die globale Erwärmung eine langsame Bedrohung ist, von der die Menschen unterschiedlich betroffen sind. Ich lebe in New York, wo die Folgen noch nicht direkt spürbar sind. Es braucht ein gemeinschaftliches Erlebnis, um diesen Effekt auszulösen. Wenn ein Asteroid auf die Erde zurasen würde, wären wir alle gleich betroffen.

Sie schreiben auch von einer Freundin, die während der Belagerung von Sarajevo in einer Art Kommune gelebt hat und die diese Zeit bis heute vermisst. Warum enden solche Lebensformen sonst so oft in einem zwischenmenschlichen Desaster?

Offensichtlich sind wir in Gruppen sicherer. Je grösser sie aber sind, desto eher gibt es Konflikte. Lassen die sich nicht lösen, geht die Gruppe auseinander, und alles geht von vorn los, das ist menschliche Geschichte.

Aber Sie beschreiben die Stammesgemeinschaft doch genau umkehrt, als solidarischer und inniger.

Ich habe mich nie eingehend mit Kommunen beschäftigt, vermute aber, dass die Bewohner tiefere Raten von Depression und Selbstmord haben. Kommunales Leben kann die psychologische Gesundheit verbessern, dafür aber das Konfliktrisiko erhöhen.

Wie könnte man das verlorene Wissen um Gemeinschaft denn in den modernen Alltag integrieren?

Es gibt Wege, aber die sind politisch undenkbar. In den USA leben zum Beispiel die Amish in einer kommunalen Gesellschaft. Sie haben sehr tiefe Depressions- und Selbstmordraten. Das hat damit zu tun, dass sie das Auto verbannt haben und nie grosse Distanzen überwinden. So könnten auch wir die Stammeskultur zurückbringen. Aber natürlich wird das nie passieren. Auf Englisch sagen wir: Man kann den Kuchen nicht essen und behalten. Man kann nicht die Vorzüge einer reichen, modernen Gesellschaft geniessen und dazu auch noch die Vorzüge von Jäger-Sammler-Gesellschaften. Beides geht nicht.

Apropos Errungenschaften der Zivilisation: Bringen uns die neuen Technologien nicht näher zusammen?

Ich denke nicht, die Nutzung von Facebook korreliert mit höheren Selbstmordraten. Dabei werden ja vor allem Informationen getauscht und keine Emotionen. Wenn ich durch die Strassen gehe, schaut jeder nur noch auf sein Smartphone. Manchmal ist es, als würden wir einer Gesellschaft von Autisten leben. Ich finde soziale Netzwerke unglaublich uninteressant und deprimierend.

Ist die Sehnsucht nach dem Stamm auch ein Grund für das Erstarken des Nationalismus?

Ich lebe in einem dominikanischen Quartier. Zwei Blocks weiter wohnen fast nur Afroamerikaner. Zwischen diesen Vierteln gibt es enorm viel Misstrauen. Das hat damit zu tun, dass Menschen darauf gepolt sind, sich mit ihrer Gruppe zu identifizieren und die Welt in «wir» und «die» einzuteilen. Das hat uns geholfen zu überleben. Machen das Rassisten? Natürlich. Machen das Nationalisten? Selbstverständlich. Es ist das, was wir Menschen tun. Die Frage ist, ob man uns in einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft dazu bringen kann, die ganze Nation als eine Gruppe zu sehen.

Und was ist Ihre Antwort?

Ich weiss es nicht. Wir haben nie in Gruppen von 200 Millionen Menschen gelebt, wir sind an einem Punkt in der Geschichte, an dem wir noch nie gewesen sind. Kann man unser Stammessystem, das uns Tausende von Jahren beschützt hat, ausweiten und dabei alle Rassen einschliessen? Vielleicht. Hoffentlich.