«Diese mörderische Jagdlust»

NZZ am Sonntag, 2. August 2015
Fotos von Sam Hobson
Helen Macdonald war depressiv, als sie sich einen Habicht anschaffte, den Psychopathen unter den Raubvögeln. Das half ihr. Die Bestsellerautorin über die therapeutische Kraft des Instinkts – und seine Gefahren.

In Ihrem Bestseller «H wie Habicht» beschreiben Sie Habichte als gespenstische Psychopathen, die im Dickicht der Wälder leben und töten. Was veranlasste Sie dazu, sich so etwas ins Haus zu holen?
Vor acht Jahren starb mein Vater plötzlich an einem Herzinfarkt. Das zerschmetterte meine Identität völlig, der Schmerz war kaum auszuhalten. Er fühlte sich an wie glühendes Metall, das sich durch den Körper brennt. So setzte eine Art Wahnsinn ein, ein stiller, gefährlicher Wahnsinn. Ich dachte, es würde vorbeigehen, ging es aber nicht. Als Historikerin las ich zuerst viele Bücher über Trauerbewältigung. Wie jeder Akademiker glaubte ich daran, darin Antworten zu finden. Ein Trugschluss: Ich konnte mich nicht einmal in den typischen Trauerphasen wiederfinden, die Elisabeth Kübler-Ross beschrieben hat. Generell störte mich, dass einem diese Ratgeber immer «darüber hinweg» helfen wollen.

Was ist daran falsch?
Ich habe auch sehr lange gebraucht, aber dann sah ich ein, dass man über so einen Verlust nie hinwegkommt. Wozu auch? Ich will meinen Vater nicht vergessen. Es geht doch darum zu lernen, mit dieser permanenten Präsenz von Absenz zu leben. Und es gibt verschiedene Arten, das zu tun.

Dass Tiere therapeutisch sein können, ist bekannt. Wäre es nicht einfacher gewesen, sich einen Hund zuzulegen? 
Ich wäre vor dem Tod meines Vaters auch nie auf die Idee gekommen. Ich flog immer Falken, elegante, edelmütige Geschöpfe, die sich von Habichten unterscheiden wie Hunde von Katzen. Habichte waren für mich etwas für Ex-Biker mit Tattoos. Bis ich von ihnen zu träumen begann.

Träumen?
Ja, von einem ganz spezifischen Habicht. Ich habe früher bei einer Auffangstation für Greifer gearbeitet. Da war dieses Habicht-Weibchen, das bei der Jagd gegen einen Zaun geprallt war und untersucht werden musste. Sie war wunderschön und schien mir bedeutsamer und älter als alles, was ich je gesehen hatte. Das hat auch damit zu tun, was ich in diesen Vogel projizierte: Er ist einsam und frei. Er kennt keine Vergangenheit und keine Zukunft, keine Gefühle und keinen Schmerz. Fliegt er am Himmel, ist es, als würde er aus dieser Welt hinaus und in eine andere hineinschlüpfen, eine wilde und unerreichbare.

Psychologen würden das wohl als typischen Fall von Eskapismus deuten. Was sehen Sie darin?
Natürlich war es eine Flucht. Ich wollte sein wie der Habicht, verschwinden, nichts denken, nichts fühlen. Ich hätte natürlich auch versuchen können, Differenzialrechnung zu lernen oder den Everest zu besteigen. Damals hatte ich keinen festen Job, kein Haus, keinen Partner. Da ist aber noch eine tiefere, kompensatorische Dimension: Trauer ist ein wildes Biest, sie packt dich und lässt einfach nicht mehr los. Trauer lässt sich nicht zähmen, ein Habicht hingegen schon.

Versetzen wir uns doch an den Tag zurück, an dem dieser Vogel bei Ihnen einzog. Bitte stellen Sie uns den neuen Mitbewohner kurz vor.
Es ist eine Sie, respekteinflössende Klauen, pfeffriger Geruch, starrende Augen, Milchkaffeefarben mit schwarzen Tupfen. Sie ist aufgedreht wie ein Mensch auf Amphetaminen, der auf alle Reize blitzschnell reagiert. Ihre Augen sind sechsmal schärfer als unsere, ausserdem kann sie Wärme sehen und ultraviolette Farben. Ich habe sie Mabel genannt, vom lateinischen amabilis, liebenswürdig.

So ein Kitschname?
Es ist eine Art Aberglauben unter Falknern. Je wilder der Name, desto feiger der Vogel. Ich kenne Habichte, die Dixie heissen oder Babydoll. Das passt natürlich nicht zu allen Facetten dieser komplexen Charaktere. Bald sind sie wie schnurrende Kätzchen, bald von Dämonen besessen.

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Besessen? Wie muss man sich das vorstellen?
Habichte haben diese mörderische Jagdlust, sind sie in ihrem Element, haben sie nur das Töten im Sinn. In der Luft erinnern sie an Kampfflugzeuge. Während Falken wie F-14-Jets aus der Höhe niederschiessen, jagen Habichte tief und aus dem Hinterhalt. Sie sind wendig wie Apache-Helikopter und können ihre Beute mit einer Geschwindigkeit von bis zu 90 Kilometern pro Stunde verfolgen.

Wie kommt man an einen Habicht?
Ich habe meinen im Internet gekauft, von einem irischen Züchter, für rund 1200 Franken.

Was frisst er?
Rohes Fleisch. Rind oder Eintagsküken aus der Tiefkühltruhe und später, wenn man ihn jagen lassen kann, Fasanen, Hasen oder kleine Hirsche.

Wo wohnt er?
Im Wohnzimmer, auf dem Sprenkel. Das ist eine Art Ständer-Sitzstange, ähnlich einem Ast.

Im Wohnzimmer? Daran dürften Naturschützer wohl keine Freude haben. Was sagen Sie Ihren Kritikern?
Ein wilder Habicht jagt, frisst und ruht, bis er wieder Hunger hat. Dasselbe tat Mabel, ausser dass sie abends nicht auf einem Ast sass, sondern mit mir vor dem Fernseher. Solche Gedanken zeigen, wie scheinheilig und widersprüchlich Mensch-Tier-Beziehungen in unserer Gesellschaft gelebt werden. Biologisch betrachtet sind Habichte nicht viel mehr als Hühner mit grossen Krallen. Nur zuckt beim Gedanken an ein Huhn im Massenstall kaum einer zusammen.

Habichte sind der Inbegriff von Freiheit.
Das ist nur eine kulturelle Zuordnung. Sie hat damit zu tun, dass die Falknerei aristokratisch und unabhängig war. Zudem konnten Habichte lange nicht gezüchtet werden. Zwischen sexueller Erregung und mörderischer Jagdlust liegt bei ihnen ein sehr schmaler Grat, in der Regel töten Weibchen die Männchen. So sind Habichte zu einem Symbol für Wildnis geworden, einen Zustand, der in der heutigen Zeit für schützenswert gehalten wird. Schützen kann man aber nur, was man wirklich kennt.

Was macht einen guten Falkner aus?
Geduld. Wer einen Habicht zähmen will, muss lernen, in anderen Zeitdimensionen zu denken, alles wie in Zeitlupe geschehen zu lassen und eine konstante Ruhe auszustrahlen. Das bedeutet, an nichts zu denken und mit leerem Geist dazusitzen.

Meditation ohne Meditation.
Einerseits. Andererseits muss man sehr wachsam sein, die eigene Körpersprache ebenso konstant beobachten wie die Reaktionen des Vogels, und seien die auch noch so klein.

Klingt furchtbar anstrengend.
Es ist schon ein Stress. Mit der Zeit wurde das aber ganz normal. Ich fing an, die Welt anders wahrzunehmen. Sie wurde gleichzeitig kleiner und grösser. Ich bemerkte Millionen von Kleinigkeiten, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren, sekundenschnelle Reflexionen der Sonne, flüchtige Schatten. Ich lebte in einer Art unendlicher Gegenwart. Das hat mir geholfen, meinen Schmerz zu vergessen, und mich gleichzeitig daran erinnert, dass ich am Leben bin.

Sie setzten sich in Ihrem Buch auch mit Terence Hanbury White auseinander, dem Autor von «The Goshawk». White beschreibt das Zähmen eines Habichts als Gefecht, als Showdown zwischen Mensch und Tier, wie wir es als literarische Begegnung in «Moby Dick» kennen. Wie muss man sich das bei Ihnen vorstellen?
Als uralten Tanz. Oder als sanfte und liebenswürdige Verhandlung zwischen zwei sehr verschiedenen Partnern. Man kann Habichte ja nicht bestrafen oder dominieren, sondern nur positiv bestätigen – mit Futter. Ich belohnte Mabel, wann immer sie auf meine Faust hüpfte oder flog beziehungsweise auf den Lederstulpenhandschuh. Auf nackter Haut fühlen sich Klauen wie ein Griff in die Steckdose an. Das wird zuerst drinnen geübt, dann draussen an der Lockschnur. Irgendwann fliegt der Vogel vollkommen frei.

Als Mabel zum ersten Mal einen Fasan erwischte, halfen Sie ihr, ihn zu rupfen – «wie eine Mutter ihrem Kind», schreiben Sie. Wurde Ihre Beziehung zu dem Vogel da nicht krankhaft?
Nicht, was meine Gefühle der Fürsorglichkeit in diesem Moment betrifft. Ich verstand damals, dass sie kein Symbol des Todes ist, sondern ein kleiner Habicht, der realisiert hat, wofür er da ist. Im Nachhinein würde ich diese Stelle jedoch anders formulieren, geschlechtsneutraler.

Warum?
Weil ich ständig gefragt werde, ob Frauen innigere Beziehungen zu Greifern haben als Männer oder ob sie Raubvögel anders oder besser zähmen. Das ist natürlich Schwachsinn.

Trotzdem gibt es bezüglich der Falknerei eine Menge Geschlechterklischees, die von Männern in ihren Tweedjacken und Range Rovers verbreitet werden. Gehen wir sie einmal durch: Falknerei ist Männersache.
Im 13. Jahrhundert war sie bei Frauen ebenso beliebt wie bei Männern. Erst mit der sozialen Geschlechtertrennung im 19. Jahrhundert beanspruchten Falkner die Jagd mit Greifern als männlichen Raum und projizierten maskuline Qualitäten wie Kraft oder Potenz auf ihre Raubvögel. Sie waren gar der Meinung, Frauen würden Raubvögel hysterisch machen. Nonsens, der in einer mas- kulinen Kultur entsteht. Aber inzwischen, hurra, ist das alles viel besser.

Negative Habicht-Eigenschaften sind typisch weiblich.
Ha! Auch jenseits aller Vernunft. Aber es ist schon so: Früher wurden Problemvögel gern mit sogenannt frauentypischen Attributen wie launisch, flatterhaft oder hysterisch beschrieben.

Autoren von Tierklassikern sind homosexuell.
Natürlich nicht alle, aber es gibt diese schmerzvolle literarische Tradition im «Nature Writing» tatsächlich. Kein Wunder, Natur kann man gefahrlos lieben und beschreiben. Terence Hanbury Whites «The Goshwak» kann man als Zeugnis unterdrückter homosexueller Begierde lesen. Oder die Bücher von Maxwell Knight, BBC-Naturforscher und Geheimdienst-Chef. Weil er nicht offen über seine Neigung sprechen konnte, schrieb er ein Buch über seinen Kuckuck Goo.

Warum fühlten Sie sich zu dieser Welt so hingezogen? Während alle kleinen Mädchen Ponys lieben, haben Sie beim Einschlafen die Arme hinter dem Rücken verschränkt, als wären Sie ein Vogel mit Flügeln.
Schwer zu sagen. Raubvögel waren für mich das Beste, was je existiert hat. In meinem Zimmer hingen Beutegreifer statt Pop-Stars an den Wänden. Wenn die anderen im Religionsunterricht das Vaterunser beteten, flüsterte ich zu Horus, dem ägyptischen Gott in Falkengestalt. Vielleicht imitierte ich damit meinen Vater, wir waren uns sehr ähnlich, zwei Nerds, er liebte Flugzeuge am Himmel, ich Vögel.

Fliegen wie ein Vogel ist ein klassisches Traummotiv. In was wollten Sie sich verwandeln?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Zwillingsbruder bei der Geburt gestorben ist. Lange wusste ich davon nichts und vermisste trotzdem immer etwas. Es gibt mythologische Erklärungen: In der schamanischen Kultur können Habichte zwischen Diesseits und Jenseits hin und her fliegen. Sicher ist, dass es auch in der Falknerei um Verlust und Wiedergewinn geht: den Vogel loszulassen und zu hoffen, dass er zurückkommt. Schliesslich hat er stets die Wahl, sich für die Wälder zu entscheiden, den Himmel und gegen den Menschen.

Berlin, Germany. March

Sie haben die Jagd als eine Art High beschrieben. Was hat Falknerei mit Drogen zu tun?
Als ich den Habicht flog, war ich nur noch Auge und Wille. Stunden fühlten sich wie Jahre an. Nicht nur die Trauer verschwand, auch meine Geldsorgen. Ich sah die Welt mit Habichtaugen, mich trieb an, was den Habicht trieb. Heute noch zucke ich zusammen, wenn ich irgendwo ein Kaninchen sehe. Das kann zur Sucht werden wie Glücksspiel oder Heroin. Besonders der Moment, in dem man den Vogel loslässt und das Schicksal nicht mehr kontrollieren kann.

Sie gingen also Tag für Tag mit Mabel auf die Jagd, brachen Kaninchen das Genick oder drehten Fasanen den Hals um, damit der Vogel sie nicht bei leben- digem Leib in Stücke riss. Hat das Ihr Verständnis von Tod verändert?
Nein, Tod ist das Ende, für uns alle.

Was aber macht das mit einem, dem Ende so ganz nah zu sein?
Ich habe einem natürlichen Prozess beigewohnt, und der hat alles wertvoller gemacht. Das mag widersprüchlich scheinen, für mich war es das aber nicht. Es hat mir gezeigt, dass unsere Leben nur kurze Episoden in der Geschichte der Welt sind und wir so viel davon sehen sollten, wie wir nur können. Während Mabel immer zahmer wurde, wurde ich immer wilder. Ich habe mich von der Welt abgekapselt, zuckte zusammen, wenn der Postbote klingelte oder das Telefon. Ich bekam Angst vor Menschen. Das mag jetzt verrückt klingen, aber ich habe mich eins mit ihr gefühlt.

Wie hat Sie die Realität eingeholt?
Zu Beginn war meine Flucht wie eine Medizin. Haben Sie manchmal Kopfschmerzen?

Hin und wieder. Warum?
Wenn man mit der Hand fest gegen die Stirn drückt, fühlt man den Schmerz nicht mehr, sondern nur den Druck auf der Hand. So ähnlich war das mit mir und Mabel. Mit der Zeit funktionierte es aber nicht mehr. Die Trauer fing an, aus mir heraus zu bluten. Nachts hatte ich Albträume, morgens wachte ich mit tränennassem Gesicht auf, tagsüber ass ich zu viel.

Wann merkten Sie, dass Sie professionelle Hilfe brauchen?
Als ich neben einem von Mabels toten Hasen kniete und absolut nichts mehr fühlte. In diesem Moment fuh ren Leute in einem Auto an mir vorbei, sie starrten mich an und ich sie, sie verstanden mich nicht und ich sie nicht. Ich realisierte, dass ich ein Mensch bin und Menschen brauche. Nur hatte ich den Kontakt zur eigenen Spezies völlig verloren.

Eskapismus ist also keine Lösung?
Er ist Teil davon. Rückblickend sehe ich meinen Trauerprozess als Übergangsritus. Ich musste etwas anderes werden, um den Weg zurück ins Leben zu finden. Aber auch das ist kein Rezept. Man kann nur durchhalten. Das Problem mit Trauer und Depression ist, dass es sich so absolut anfühlt. Man meint, es würde nie enden, aber das stimmt nicht.

Was war mit Ihren Freunden, Ihrer Familie? Hätten die Sie nicht ebenso sehr gebraucht wie umgekehrt?
Doch, nur habe ich das zu spät gemerkt. Das ist das Einzige, was ich bereue: dass ich mich nicht mehr um meine Mutter und meinen Bruder gekümmert habe.

Der amerikanische Naturphilosoph John Muir hielt die egoistische Flucht in die Wildnis für die ultimative Medizin: «Mit ihren grünen beschaulichen Wäldern lindert und heilt die Natur alle Gebrechen», schrieb er. Eine Lüge?
Das stimmt schon, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Ich habe es zu weit getrieben. Natur ist ein Ort des Trosts und der Erneuerung, aber man kann sich darin verlieren.