Ein Affenleben

NZZ am Sonntag, 2050, 22. Mai 2022
Fotos von Serhii Korovayny
Er wurde von Putin bedroht und von den Klitschkos gerettet, er hasst Männer und liebt Blondinen: Die Geschichte von Toni, dem einzigen Gorilla in der Ukraine, ist ein Spiegel des Kampfes zwischen Ost und West, unserem Umgang mit Menschenaffen und Tieren im Krieg.

Seit Ausbruch des Krieges baut Toni sein Nest nicht mehr am Panzerglasfenster. Die im Gehege verteilte Holzwolle sammelt er zwar nach wie vor zusammen, auf dem Boden, den Steinblöcken und Felsen, die aussehen, als lägen sie in den Bergen Kameruns und nicht in seinem Kuppelraum mitten in Kiew. Sein Nest aber baut er nun in der hintersten Ecke – und deckt sich mit dem Rest zu.

Der 24. Februar 2022 hat nicht nur die Welt verändert und das Leben von 44 Millionen Ukrainern, sondern auch jenes von Toni, dem Gorilla. Als die Russen im Morgengrauen angreifen, klettert er auf den höchsten Felsen, hinter dem die gelben Kacheln mit Savannenbäumen bemalt sind, als ob er sich dieselbe Frage stellen würde wie so viele in diesem Moment: Wie ist das möglich? So schildert seine Pflegerin Walentina Dikarjowa diese Nacht, die sie nie mehr vergessen wird, in der sie zu Hause vom Sire­nenlärm aufschreckte, das Nötigste packte und mit ihrem Mann und ihrem Sohn zu den kreischenden Schimpansen und Gibbons eilte, für die sie als Chefin des Affenhauses verantwortlich ist. Zu dem Lemurenweibchen, das in diesen Stunden sein Baby verstösst. Und natürlich zu Toni, dem einzigen Gorilla der Ukraine.
Tonis Pflegerin Walentina Dikarjowa.

Tonis Pflegerin Walentina Dikarjowa.

Und ihre Helferinnen Nataliya und Olena beim Reinigen von Tonis Innengehege.

Und ihre Helferinnen Nataliya und Olena beim Reinigen von Tonis Innengehege.

Dieses Lemurenbaby wurde während der Angriffe von der Mutter verstossen.

Normalerweise darf er höchstens zweimal pro Tag etwa vierzig Minuten fernsehen. Doch solche Regeln spielen nun keine Rolle mehr. Dikarjowa lässt Tonis Lieblingsfilm «Koko, der sprechende Gorilla» laufen und Entspannungsmusik in voller Lautstärke, damit er die Bomben nicht hören kann. Was, wenn der Silberrücken durchdreht? Oder die Tiger von nebenan ausbrechen? Wer stirbt zuerst?

Vierundzwanzig Stunden später ist der Krieg schon ganz nah, die feindlichen Truppen kämpfen sich den südlichen Zoomauern entlang am Peremohi-Prospekt ins Stadtzentrum und parallel dazu im Norden an der Dehtjariwska-Strasse. Sirenen, Bomben, Explosionen – und mittendrin der Zoo mit rund 4000 Tieren und Toni, dem Schützling von Bürgermeister Witali Klitschko mit Beziehungen bis nach Hollywood.

Tonis Lebensgeschichte ist nicht bloss ein Abbild der Weltpolitik, sondern auch der Zoohistorie seit dem Kalten Krieg. Sie beginnt in Zeiten, in denen Zoodirektoren Jagd auf Wildtiere machten und Pfleger den Gorillakindern Lätzchen umbanden, sie an Tischchen setzten und züchtigten wie ihren eigenen Nachwuchs. Sie handelt von unserem Umgang mit unseren nächsten Verwandten und ist ein Lehrstück darüber, was passieren kann, wenn Menschen Gott spielen.

Man könnte sie in Schauplätzen erzählen, Kamerun, Kongo, Nürnberg, Hannover, Saarbrücken, Kiew. Oder mit den Charakterisierungen, mit denen Toni in seinen 47 Lebensjahren beschrieben wurde: Sensation, ­Liebling, Zurückgebliebener, Nichtvererber, Aussortierter, Gequälter, Geretteter, Held. Dieser Toni war vieles, nur vermutlich eines nicht: Gorilla.

Auf dem 40-Hektaren-Zoogelände flackern in der zweiten Kriegsnacht nur die Bildschirme der Handys, mit denen Walentina Dikarjowa und die anderen kommunizieren. «Alles okay?» «Brauchst du was?» Die Metalltüren an den Eingängen sind verbarrikadiert. Rund 50 von 350 Angestellten ducken sich mit ihren Familien im Keller des Vogelhauses oder versuchen, die Tiere zu beruhigen. Horace, der Elefant, muss mit Acepromazin sediert werden. Das Beruhigungsmittel wird auch den Zebras ins Wasser gemischt, und ihre Scheune wird mit Heuballen verkleidet, für den Fall, dass sie in Panik in die Wände rennen. Sie sind ebenso gefangen wie Vögel, die gegen Käfigwände fliegen und sich die Flügel brechen.

«Toni ist sicherer als alle anderen Tiere», sagt Dikarjowa. Sein Innengehege ist im Raubtierhaus, das dicke Steinmauern hat und schalldichter ist als die restlichen Zoogebäude. Auf Bildern sieht es aus wie eine kommunistische Festung mit dem Graben rundherum. Die sogenannte Animal Island wurde 1982 gebaut, als dieser Zoo noch einer der grössten der Sowjetunion war und Wladimir Putin KGB-Offizier.

Toni auf dem Weg nach draussen.

Toni auf dem Weg nach draussen.

Momentan ist Toni im Raubtiergehege untergebracht. Ein neues Affenhaus ist geplant, nur lähmt der Krieg die Arbeiten.

Inzwischen bedroht der Präsident Tonis Leben schon zum zweiten Mal: Ohne Putin wäre der Gorilla vielleicht in der Sicherheit des Münchner Tierparks Hellabrunn, in einer Gruppe mit mehreren Weibchen, wie es die Natur vorgesehen hätte. Er wäre vielleicht nicht depressiv, weil kaum neue Gesichter vor seinen Panzerglasscheiben erscheinen, für die er posiert oder an die Scheibe tippt, als wollte er sie berühren. Und er wäre auch nicht launischer zu seinen Pflegerinnen oder den Reportern, die er wie in alten Zeiten mit Scheisse bewirft.

Früher hatte Toni in Kiew noch kein so gutes Leben. Der Zoo war alles andere als auf dem Weg, Mitglied des europäischen Zoo­verbands EAZA zu werden. 2011 machte er bis in die USA Schlagzeilen als sogenanntes Konzentrationslager für Tiere. Ein Zebra brach sich das Genick, eine Giraffe ging mit Verdacht auf Vergiftung ein, und rare Kakadus verschwanden auf mysteriöse Weise. Zwischen 2007 und 2010 schrumpfte der Tierbestand um fast die Hälfte. So wollten Tierschützer und Zooverantwortliche Toni in einer international koordinierten Aktion befreien, raus aus dieser Hölle, raus aus der Ukraine. Bis Putin 2014 die Krim überfiel und die Verhandlungen unterbrochen wurden. Auch darum blieb Toni in Kiew. Ein 235-Kilo-Gorilla in einem 30-Quadratmeter-Käfig.

Westliche Flachlandgorillas leben in zentralafrikanischen Ländern wie Kamerun oder der Republik Kongo: Gorilla gorilla gorilla, eine von zwei Unterarten der westlichen Gorillas, 98,25 Prozent genetische Übereinstimmung mit dem Menschen. Breite Nase, braune Kappe, graubraunes Fell, wildlebende Männchen werden im Schnitt 1,7 Meter gross und bis zu 160 Kilogramm schwer. Ihr Kennzeichen ist der sogenannte Silberrücken. Einen Fleck von weissen Haaren haben auch bis zu drei Jahre alte Gorillas am Hintern. «Achtung», soll der sagen, «ich bin klein und hilflos.»

In diesem Alter wurden Gorillakinder aus den Wäldern geholt, insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren. Rund 20 000 Franken zahlten Zoos für einen sogenannten Wildfang, was dem heutigen Wert von etwa 100 000 Franken entspricht. Das Washingtoner Artenschutzabkommen trat erst 1975 in Kraft, um den Handel von Wildtieren zu regulieren. Zuvor hatte es kaum jemanden gekümmert, wenn für so ein Baby die ganze Familie getötet wurde. Menschenaffen leben in Gruppen, die sie gemeinsam verteidigen. Usus war, direkt auf die Mütter zu schiessen, die ihre Kinder auf dem Rücken oder am Bauch tragen.

So dürften auch Tonis Eltern gejagt wor­den sein, wie die deutsche Journalistin Jenny von Sperber recherchierte. Sie hat ein Buch über Tonis Vater geschrieben. Es heisst «Fritz, der Gorilla» und erzählt die Geschichte dieses Menschenaffen, der 1966 von Kamerun nach Deutschland kam und mit 55 Jahren Europas ältester Gorillamann wurde. Zudem soll er als eines von 98 sogenannten Gründertieren die europäische ­Zoopopulation von mehr als 500 Gorillas mit aufgebaut haben. Ein gesunder Wildfang mit rund 40 Nachkommen, einer davon Toni, den laut von Sperber «das härteste Schicksal von allen seinen Kindern traf».

Erst grausam gejagt, dann geschöppelt und gewickelt

Toni kam am 8. August 1974 in Nürnberg zur Welt, als drittes Kind von Fritz und Delphi, einem Wildfang aus dem Kongo. Jürgen Schilfahrt, langjähriger Kenner des Nürnberger Zoos, kann sich bestens erinnern. So ein Gorillababy sei damals ein Spektakel gewesen wie Eisbär Knut im Berliner Zoo, erzählt er. Einen regelrechten Zuchtwettbewerb habe es unter Zoos gegeben, seit 1956 im Zoo von Ohio das erste Gorillababy in Gefangenschaft geboren wurde und drei Jahre später mit Goma in Basel das erste europäische.

Aufgewachsen ist Toni nicht bei seinen Eltern, sondern in der Familie des Affenpflegers. «Das war natürlich komplett unnatürlich», sagt Schilfahrt, da sich Gorillaväter gemeinsam mit den Müttern um den Nachwuchs kümmern. Zu gross waren jedoch das Unwissen und die Angst, der Silberrücken könnte dem raren Bündel etwas antun oder Delphi nicht gut für ihn sorgen. Toni wurde also geschöppelt, gewickelt und gebadet wie ein menschliches Baby. Später kam er mit Orang-Utan-Baby Zenzi in eine umgebaute Zootoilette, die mehr Spitalraum war als Affenkinderstube: verglast, hellgrün gekachelt, Waschbecken, ständig saubermachen, ständig desinfizieren, damit die Kleinen nicht krank werden.

Werden Handaufzuchten nicht wieder in eine Gorillagruppe integriert, sind sie weder Mensch noch Gorilla, gefangen zwischen zwei Welten, sozusagen lost in translation.

Das Prinzip heisst Handaufzucht und unterscheidet sich fundamental von der heutigen Praxis, bei der Pflegerinnen jeglichen Kontakt zu den Tieren meiden, um sie nicht menschlich zu prägen, bloss nicht. Tiere sollen Tiere sein, Gorillas Gorillas.

Die 1967 von Dian Fossey begründete Gorillaforschung war noch jung. Damals wusste noch niemand, dass handaufgezogene Männchen etwa weniger Nachwuchs zeugen als jene, die unter ihresgleichen aufwachsen. Oder dass Weibchen sich schlechter um ihre Babys kümmern, zumal sie nie gelernt haben, wie das geht. Werden Handaufzuchten nicht früh genug wieder in eine Gorillagruppe integriert, sind sie weder Mensch noch Gorilla, gefangen zwischen zwei Welten, sozusagen lost in translation. So sagt Walentina Dikarjowa heute Sätze wie: «Toni kann es besser mit Menschen als mit Gorillas.» Oder: «Toni hasst Männer.» Die 50-Jährige mit den weichen Zügen betreut den Affen seit 23 Jahren und bezeichnet ihn als alten Freund.

Neurotisch wie manch ein Mensch ist Toni schon vor dem Krieg gewesen: Decken zum Beispiel pflegt er immer wieder auszubreiten und glattzustreichen, sich darauf zu setzen und sie wieder zusammenzufalten, als hätte er das bei Putzexperten abgeschaut. Trinken will der Gorilla nur aus Flaschen, während er sein Wasserbecken nicht anrührt. Und die Launen erst: An einem Tag werfe er mit allem nach ihr, was er finde, erzählt Dikarjowa. Am anderen klopfe er ans Glas oder an die Gitterstäbe, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Insbesondere wenn Blondinen auftauchen wie die Hollywoodschauspielerin, die für Toni so etwas ist wie Ann Darrow für King Kong: Hayden Panettiere, Wladimir Klitschkos Ex.

Totale Tristesse: So musste Toni jahrelang vor sich hin vegetieren. (Kiew, Mai 2013)

Totale Tristesse: So musste Toni jahrelang vor sich hin vegetieren. (Kiew, Mai 2013)

PD
Mehrere Ebenen, Hängematte, Beschäftigungsmöglichkeiten: Heute geht es Toni viel besser als früher.

Die Klitschko-Brüder verstecken sich in einem Bunker, als am zweiten Kriegstag etwa hundert Meter vom Zoo entfernt ein Hochhaus brennt. Am zehnten Tag explodiert der Telefonturm in der Nähe, und am 21. hagelt es um 6 Uhr 07 morgens Trümmerteile von einer abgeschossenen Rakete. Und während Bürgermeister Klitschko mit Reportern redet und Präsident Selenski mit Biden, redet der Zoodirektor auch mit Kollegen aus dem Raum Gaza. Wer hätte bessere ­Ratschläge als jene, für die der Krieg sozusagen Alltag ist. Die einen wollen Menschen retten, die anderen Tiere, 24 Stunden, 7 Tage pro Woche.

Zwischen den Zoos kursieren auch Notfallpläne von Beratern des europäischen Zooverbands EAZA. «Während des Zweiten Weltkriegs haben viele ihre Primaten mit gekochtem Reis und Kartoffeln gefüttert», heisst es da etwa. Oder für den Fall, dass das Fleisch ausgeht: «Erstellen Sie eine Liste der überzähligen männlichen oder alten Huftiere, die geschossen werden könnten. Lohnenswert wäre zudem, gegebenenfalls andere Arten zu reduzieren.»

Noch müssen keine Tiere getötet werden, noch bekommt Toni seine täglichen zehn Kilogramm Gemüse und Obst. Amerikaner bieten an, ihn für zwei Millionen Dollar ­rauszuholen. Aber würde der Affengreis eine Evakuierung überhaupt überleben? Kaum. Mit 47 Jahren ist er sieben Jahre älter, als Menschenaffen in der Wildnis je werden. Und so ein Gorillatransport ist schon unter normalen Bedingungen eine Herausforderung, angefangen bei der Transportkiste bis hin zu den Papieren.

Zudem ist Tonis Gesundheit angeschlagen. Vor einem Jahr mussten ­Tierärzte des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung nach Kiew reisen, zum zweiten Mal bereits. Toni leidet an den Spätfolgen einer Zeit, in der Besucher Chips oder Schokolade in sein Gehege warfen und noch nicht peinlich genau auf seine Diät geachtet wurde. Seine Magen-Darm-Probleme sind chronisch, und von der Untersuchungs­narkose hat er sich auch nur schwer erholt.

Impotent und nach Kiew aussortiert

Toni war schon unterentwickelt, als er mit kaum zwei Jahren an den Zoo Hannover verkauft wurde, in einem Alter, in dem Gorillakinder noch von der Mutter gesäugt werden. «Seine körperliche Entwicklung zeigte Einschnitte», wie im Magazin «Der Zoofreund» von 1992 zu lesen ist. Monatelang wuchs er nicht und magerte ab, bekam trockene Haut und ein stumpfes Fell. Erst nach Jahren erholte er sich und begann sich sogar «zu verpaaren». Nachwuchs kam jedoch keiner. Auch in Saarbrücken nicht. Und das war der Grund, warum Toni 1999 in Kiew landete, transferiert wurde oder abgeschoben, je nach Perspektive.

Ostzoos waren für ihren Sowjetstil bekannt, viel Beton, viel Stahl, sonst nichts. Zurückgeblieben um Jahrzehnte, weil es an Geld fehlte, an der Logistik und dem Austausch mit Experten aus der ganzen Welt. Damals gab es auch noch keine «Best Practice Guidelines» der EAZA, die auf 175 Seiten ­vorschreiben, wie Gorillas gehalten werden müssen. Heute hat Toni ein Innen- und ein Aussengehege mit mehreren Ebenen, Kletterstrukturen, Rückzugsmöglichkeiten, Hängematten, Beschäftigung, Spielzeug. Damals hatte er nichts ausser einem kleinen Käfig.

Gorillas nur einen Silberrücken pro Gruppe vertragen. Wohin also mit dem männlichen Überschuss? Kastrieren oder einschläfern?

Ausgerechnet ein Schweizer war es, der Tonis Transfer nach Kiew empfahl: Christian R. Schmidt, ehemaliger Frankfurter Zoodirektor und Begründer des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP). «Wir riefen es 1985 ins Leben, um Zoopopulationen von gefährdeten Tierarten aufzubauen», sagt Schmidt, der heute in Küsnacht lebt. Natürlich ging es auch um den Nachschub in Zoos, in denen es noch oft mehr Todesfälle als Geburten gab. Seit der Etablierung des Artenschutzabkommens in den siebziger und achtziger Jahren durften kaum mehr Wildfänge gekauft werden. Das EEP wollte auch den Handel zwischen den Zoos unterbinden. Um das Wohl der Art sollte es gehen, nicht ums Geld.

Toni nach Kiew zu verlegen, sei keine leichtfertige Entscheidung gewesen, erzählt Schmidt, der als Gorilla-Koordinator vorschlug, welches Tier wohin kann, mit wem «vergesellschaftet» wurde. Die Distanzen dürfen nicht zu weit sein, die Genetik muss stimmen und natürlich auch die Haltung. Bis zu einer Stunde sei im Fachgremium über Toni diskutiert worden und die Käfige in Kiew, in denen damals ein altes Wildfangweibchen namens Dora hockte: «Sie sollte aus der Einzelhaft befreit werden, denn ein einzelner Gorilla ist kein Gorilla», sagt Schmidt. Toni hingegen war ein sogenannter Nichtzüchter und die Plätze knapp, zumal Gorillas nur einen Silberrücken pro Gruppe vertragen. Wohin also mit dem männlichen Überschuss? Kastrieren oder einschläfern? Beides kommt für Schmidt nicht infrage. «Ein Gorilla ist ein halber Mensch», sagt er.

In den ersten Wochen des Krieges stapeln sich in den Zoolagern Kisten voller Birnen und Bananen, Säcke mit Kartoffeln, Kürbissen oder Kohl. Während die EU und die USA Waffen in die Ukraine liefern, spenden westliche Zoos und die EAZA Tonnen von Trockenfutter und Medizin.

Seit Kirilo Trantin Zoodirektor ist, geht es den Tieren immer besser.

Auf Bildern ist zu sehen, wie der Zoodirektor Kirilo Trantin und seine Männer Mitte März zwei Tonnen aus einem Lastwagen laden. «Danke, meine lieben Kollegen, gemeinsam werden wir gewinnen», sagt Trantin in die Kamera, der über Facebook mit den Zoos kommuniziert wie Präsident Selenski mit der ganzen Welt. Er gibt Updates, macht Aufrufe und zeigt, wie auch Tiere unter den Angriffen leiden:

1. April: «Heute ist schon der dritte Tag, an dem unsere Pelikane zurück auf dem Teich sind. Leider ohne Küken. Wegen der Explosionen wurde die Eiablage unterdrückt.»

2. April: «Heute kam ein Reh an, das im Epizentrum der Angriffe gerettet wurde. 30 Prozent von Haut und Augen haben Verbrennungen ersten bis zweiten Grades.»

5. April: «Wir brauchen frisches Gemüse – Rucola, Petersilie, Koriander, Salatblätter usw. Für eine Vitamindiät brauchen unsere Tiere mehr als 20 Kilo Grünfutter pro Tag.»

Kampf um Toni: Westen gegen Osten

In der Region Kiew wird die Lage mit Massakern wie jenem in Butscha schlechter. Toni geht es jedoch um Welten besser als beispielsweise am 25. Mai des Jahres 2014, als die Sendung «Tiere suchen ein Zuhause» im deutschen WDR mit Bildern über sein Schicksal berichtete: Toni hinter Gittern, allein, vor sich hin vegetierend und seine Hand zwischen den Stäben ausstreckend, als wollte er sagen: «Hilf mir!»

So hat ihn der Deutsche André Plambeck zufällig entdeckt, nachdem er sich 2012 ein paar EM-Spiele in der Ukraine angeschaut hatte. «Diesen Anblick konnte ich nie mehr vergessen», sagt der Projektmanager, der mit Tierschutz zuvor nie etwas am Hut hatte. Nun wurde er einer von mehreren, die für das artgerechtere Leben kämpften, das Toni heute auf 1250 Innen- und Aussenquadratmetern führen kann.

Plambeck suchte Gleichgesinnte, nahm Kontakt mit Zoos auf und landete schliesslich wieder da, wo alles begann: beim Europäischen Erhaltungszuchtprogramm EEP. Und bei einem neuen Gorilla-Koordinator, der Toni zurück nach Deutschland holen wollte, in den Münchner Tierpark Hellabrunn. Es begann ein Kampf um die vermeintlich richtige und falsche Gorillahaltung, Westen gegen Osten, das EEP gegen den damals noch dubios geführten Zoo. E-Mails wurden getauscht, Drohungen ­ausgesprochen und sogar eine Eigentumsübertragung gefälscht.

Und so stellte sich in diesem Affenkrimi die nächste Frage: Wem gehört Toni? Kiew? Saarbrücken? Oder gar dem Münchner Zoo, dem sein Vater ursprünglich gehörte? Letzten Endes spielt es keine Rolle, es kam ohnehin alles anders – erst wegen Putins Überfall auf die Krim, der die Diskussionen lähmte. Und dann wegen der Klitschko-Brüder und einer Blondine.

Prowestlicher Zookurs

Der erste Klitschko-Moment in Tonis Leben war 2014, als der Ex-Boxer Witali zum Bürgermeister von Kiew gewählt wurde und seinen prowestlichen Kurs sogar im Zoo vorantrieb: «Wenn du die Verantwortung dafür übernehmen willst, dass unser Zoo europäisch wird, dann fang an», soll er zu Kirilo Trantin gesagt haben. Und seit der 49-Jährige mit dem runden Gesicht Zoodirektor ist, werden die Gehege immer grösser und naturnaher, die Pflege und die Beschäftigung immer professioneller.

«Jetzt sind meine Leute so erschöpft», sagt Trantin, der seit Ausbruch des Krieges mit seiner 80 Jahre alten Mutter sowie seinen Haustieren im Zoo lebt. Den Betrieb hält er mit Spenden und symbolischen Ticketverkäufen am Laufen. Zu tun gibt es mehr als genug: Ständig werden verlassene oder verletzte Tiere zu ihm gebracht. Die Tigerin vom Feldman Ecopark etwa, dem Privatzoo nahe der umkämpften Stadt Charkiw. Pfleger starben, Löwen oder Tiger mussten eingeschläfert oder evakuiert werden. «Die Tigerin war voller Wunden, Urin und Kot», sagt Trantin, «ich dachte, sie sei tot.»

Nach dem Untergang des russischen Flaggschiffs «Moskwa» droht der Kreml wieder mit Angriffen auf Kiew. Aber Trantin bleibt, komme, was wolle. «Ich muss den Zoo retten», sagt er. Genauso wie er ihn 2009 retten wollte, als das riesige Gelände nahe des Stadtzentrums mit Hochhäusern überbaut werden sollte und der halbe Tierbestand verkauft oder vergiftet. Und genauso wie er den Zoo retten wollte, als die Gelder überallhin flossen – nur nicht in Projekte wie etwa ein Aussengehege für Toni.

Es war der zweite Klitschko-Moment in Tonis Leben beziehungsweise der Blondinen-Moment, der Toni aus seinem Käfig befreite. Nach Doras Tod verbrachte er zehn Jahre allein, teilweise ohne Tageslicht, als wäre er ein Schwerverbrecher. Umso unglaublicher klingt diese Geschichte, die man sich im Zoo immer wieder erzählt: 2014, im selben Jahr, in dem Witali Klitschko Bürgermeister wurde, besuchte dessen Bruder Wladimir den Zoo – zusammen mit seiner damaligen Partnerin, der US-Schauspielerin Hayden Panettiere.

Witali Klitschko bei Toni: Kiews Bürgermeister will alles auf Westniveau bringen. Der Zoo wird von einem Mentor des europäischen Zooverbands EAZA beraten, um möglichst bald wieder Mitglied zu werden.

Witali Klitschko bei Toni: Kiews Bürgermeister will alles auf Westniveau bringen. Der Zoo wird von einem Mentor des europäischen Zooverbands EAZA beraten, um möglichst bald wieder Mitglied zu werden.

Riavovosti
Ein Herz für Toni: Hayden Panettiere.

Sie setzte sich vor Tonis Käfig und berührte die Gitterstäbe. Und Toni, der seine Pflegerinnen oft zu packen oder zu kneifen versucht, setzte sich zu ihr und streichelte sie und sie ihn. Mindestens eine Stunde lang. In diesem Moment fasste Panettiere den Entschluss, Toni ein besseres Zuhause zu finanzieren. Es war das erste von mehreren neuen Gehegen und Verbesserungen seiner Lebensbedingungen. Inzwischen sind sich alle einig, Tierschützer, Experten, EEP-Leute: Der gute alte Toni ist in Kiew am besten aufgehoben.

Am 12. Mai öffnet der Zoo seine Türen, als ob der Krieg schon vorbei wäre. Die Menschen brauchen Ablenkung, und die Angriffe kommen erst nach acht Uhr abends. Seit zehn Tagen wurden auch keine Ziele mehr in der Nähe des Zoos getroffen, dank dem neuen Raketenabwehrsystem. Und so blinzelt in den sozialen Netzwerken das Nilpferd in die Sonne, der Elefant Horace rüsselt nach Gras, und Toni liegt draussen in seinem Nest aus Holzwolle, spürt den Frühling, die Sonne, den Wind. «Toni geht’s gut», heisst es auf Facebook, und sein Porträt ist mit dem neuen Label des Zoos versehen: «Glory to Ukraine! Glory to Heroes!»