Endstation Flughafen

NZZ am Sonntag, 7. Oktober 2012
Fotos von Pascal Mora
Für die meisten ist er Drehscheibe eines schnellen Lebens. Doch auch die Sozial-Verlierer fühlen sich hier wie zu Hause. Und es werden immer mehr. Bei den Obdachlosen am Flughafen Zürich.

Bald ist es zu spät. Zu spät, um noch einen Platz zu finden. Also zwei Sitze, auf denen nicht schon andere liegen, jetzt, um 23 Uhr. Kris schiebt ihren Gepäckwagen ins hell erleuchtete Airport-Center. An besetzten Bänken vorbei, «hier zieht es sowieso zu fest». Weiter Richtung Terminal 2, wo es wärmer ist und die Luft trockener. «Da liegt Elke. Da der Sepp, da der Hausi, und oh, oh, der Spinner mit dem Bart, nicht hinsehen, bloss nicht.» Schnell, um die Ecke und über die Passerelle hinauf in die Abflughalle. Auch die Ledersessel, natürlich alle besetzt, «gopferdammi».

Diese Runde macht sie Nacht für Nacht, diese kleine Frau, die weder den richtigen Namen noch das Alter nennen will. Wie ein französischer Clochard sieht sie aus in XXL-Blazer und Krawatte, Ton in Ton mit Mischlingshund Blu an der Leine. Irgendwann legt sie sich hin. An die Tasche gelehnt, den Borsalino ins Gesicht gezogen, um nicht geblendet zu werden vom 24-Stunden-Neonlicht. Nur so tief aber, dass sie sehen kann, wer unterwegs ist in den Reihen, in denen die Grenzen der Klassengesellschaft zwischen Sitzen verlaufen – zwischen jenen, die in die Welt hinausfliegen, und denen, für die der Flughafen Endstation ist.

Wer einmal von ihnen weiss, erkennt sie plötzlich überall. An zerbeulten Tüten von Denner oder Migros. Reisetaschen, die aussehen, als wären sie schon ein paarmal um die Welt gereist. An diesem Geruch, einer Mischung aus Rauch und Muff. Oder an Stimmen, die verraten, dass Zigaretten die besten Freunde sind. Höchstens zehn sind es laut Terminal-Management, die regelmässig in Kloten übernachten. Die Teams von Pfarrer Siebers Sozialwerken hingegen wollen auf dem Flughafengelände bereits letzten Winter um die 40 Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf betreut haben. Hört man sich unter ihnen um, zählt die Airport-WG inzwischen 80 feste Mitbewohner. Die Hälfte Schweizer, die andere aus aller Welt. Mehr Männer als Frauen, zwischen 20 und 75 Jahren, viele davon Alkoholiker.

Kris’ Tage beginnen spätestens dann, wenn jemand «Hee! Aufwachen!» ruft. Schläft sie im Airport-Shoppingcenter, auf den Sitzen der «Fashion Café Bar» etwa, wird sie um vier Uhr morgens geweckt. Weil der Betrieb um halb fünf losgeht, bald schon die ersten Gäste in den vorgewärmten Polstern Latte macchiato trinken. Trotzdem: Das «Fashion» ist begehrt, ab 22 Uhr wird für Schlafplätze angestanden. Ebenso bei den beiden Starbucks-Cafés. Weil die Liegenbequem sind und aus Leder. Es ausserdem nicht zieht, der Raucherraum nah ist wie der Fernseher im Schaufenster von Interdiscount. Saubere Toiletten für die «Katzenwäsche» gibt es im Flughafen überall. Ausserdem patrouilliert die Polizei rund um die Uhr. Augen und Ohren müssen also nicht ständig offen bleiben wie etwa im Wald oder in einem Tramhäuschen. Lieber wird der Sound des Flughafens ausgehalten. Dieses nie verstummende R’n’B-Gedudel aus den Lautsprechern, dieses Brummen der Reinigungsmaschinen, das in den Morgenstunden zu einem immer lauteren Mix wird aus Stimmenwirrwarr und rollenden Koffern.

«Ich will mich nicht beklagen», sagt Kris, grinsend wie eine der Comicfiguren, die sie so gerne zeichnet. «Wer sonst hat schon das Glück, gratis in so einem riesigen Haus zu wohnen?» Günstig sei auch die Lage mit nur zehn S-Bahn-Minuten zum Zürcher Hauptbahnhof, erzählt sie zwischen Männern mit Telefonen am Ohr und parfümierten Frauen mit Rollkoffern im Schlepp. Der frisch blondierten Reinigungsangestellten ruft sie an diesem Morgen «He hoi» entgegen, «bist du in den Farbtopf gefallen?», dann dem Personal an den Check-in-Schaltern: «Morgen! Alles klar?» und schliesslich der Polizisten-Patrouille «Grüezi mitenand». Daraufhin antwortet die eine Uniformierte mit: «Ou, jetzt habe ich schon wieder die Guetsli für Ihren Hund vergessen!» – «Der frisst aber keine Guetsli!» – «Entschuldigung, dann besser Würstli.» – «Ja, Cervelat hat er am liebsten.»

«Die Grenzen der Klassengesellschaft verlaufen am Flughafen zwischen den Sitzreihen.»

Warum Beziehungspflege ihr so wichtig ist, erklärt Kris bei der ersten Zigarette am Busbahnhof: «Wer sich anständig benimmt, wird nicht rausgeworfen.» Ausserdem wolle sie dem «Airport» etwas zurückgeben. Nach dem Rechten sehen. Randalierer den Sicherheitsleuten melden. Dafür findet sie mal ein Gipfeli in ihrem Gepäckwagen, mal einen Hundeknochen. «Der Flughafen ist aber auch mein Arbeitsplatz», sagt Kris. Und mit Arbeiten meint sie nicht nur Comics zeichnen oder Flyer, sondern wie jetzt Gratiszeitungen beim Terminal 2 abholen und wieder in den Geschäften ausliefern, im Tausch gegen Kaffee oder Sandwichs. Dann: einsammeln, was andere liegenlassen. Zigaretten auf den Bänken vor der Ankunft, Fleisch oder Käse bei den Sitzen im Abflug. Kleider findet man überall. Eine einzige Fundgrube sei der Flughafen. «Nur wird Konkurrenz langsam zum Problem», sagt Kris und äugt auf einen Typen in Shorts und Badelatschen. «Der Schwarzfussindianer! In meinem Territorium! Und diese Füsse könnte er sich auch wieder mal waschen.»

Ewald Rieser von den Sozialwerken Pfarrer Sieber bestätigt, dass es mehr Obdachlose denn je gibt. Einer seiner «Pulsfühler» ist der «Pfuusbus», in dem 30 Bedürftige gratis schlafen und essen dürfen. «2011 hatten wir mit 3000 Übernachtungen einen Rekord», sagt Rieser, der die Verschärfung der Lage insbesondere auf «Armutswanderer aus dem Osten» zurückführt. Betreut er neuerdings doch immer mehr Rumänen oder Bulgaren, aber auch Randständige aus Deutschland oder Österreich. Rieser versucht sie vergeblich an Sozialinstitutionen in der Heimat zurück zu vermitteln. «Darum müssen wir uns Abwehrstrategien überlegen», sagt der Pfarrer, «beziehungsweise die Politiker.» Letzten März zum Beispiel sei der «Pfuusbus» von Rumänen auf Arbeitssuche richtiggehend überrannt worden. Dabei sei der doch für all jene, die durch die letzten Maschen gefallen sind. Folglich wird es auch am Flughafen enger, der laut Rieser die meisten Obdachlosen beherbergt.

Auch an diesem Nachmittag sitzen sie da, wo sie bei schlechtem Wetter immer zwischen Ausflüglern und Touristen verschwinden: im Airport-Center beim Busbahnhof auf den Aluminiumbänken oder an den Holztischen. Viele wollen nicht reden, manche können nicht. Die meisten verlieren sich in den Alkoholgetränkten Erinnerungen oder Verfolgungsphantasien: Da ist Kostas, gelernter Friseur, später Möbelpacker, kaputter Rücken wegen eines Klavier-Transports, Bezüger von 960 Franken Sozialhilfe und obdachlos, seit ihn spuckende Riesenspinnen vertrieben hätten von seinem Daheim.

Da ist Andi, Ex-Haschischschmuggler und Gefängnisinsasse auf den Philippinen, jetzt Bauarbeiter mit kleinem Lohn und 50 000 Franken Schulden, die erste Freundin ist an Aids gestorben, die letzte hat ihn rausgeworfen.

Da ist Elke, aus Frankfurt, Sängerin, bis der Alkohol die Karriere verpfuschte. Seit drei Jahren in der Schweiz, Entzug im Waidspital, wieder an der Flasche seit dem 22. Juli 2011, um die Bilder von Anders Breivik zu vergessen und die Tragödie ihres eigenen Lebens. Lebt von 1000 Franken Rente und acht Dosen Bier pro Tag.

Warum Kris hier landete, ist auch schwer zu rekonstruieren. Wie genau ihr erstes Leben als selbständige Schriftenmalerin im Ruin endete, seit wann sie von 150 Franken lebt, die sie für das Verteilen von Esswaren bei Pfarrer Siebers «Brot-Egge» verdient. «Eine Verschwörung!», sagt sie, und ihre laute Stimme wird so laut, dass Pauschaltouristen einander im Vorbeigehen zuflüstern: «Hier hat es aber ziemlich kaputte Leute.» Solche Kommentare «stressen» Kris. Am meisten jener der Reinigungsangestellten, die an ihrem Gepäckwagen rüttelte und schrie: «Ich putze den ganzen Tag, und du liegst hier nur im Weg rum.» Dabei arbeite sie doch auch, halt einfach nach einem anderen Strickmuster. Trotzdem hat Kris ihr eine Collage gebastelt und am Info-Schalter hinterlegt. Mit Kommentar: «Damit Sie wieder eine bessere Laune bekommen und sich von Ihrem Burn-out erholen können.»

Tatsache ist, dass nicht alle Obdachlosen sich problemlos in den Flughafenbetrieb einfügen. Einen Stock tiefer beklagen sich die Kellner der «Fashion Café Bar» über die «Sauerei», die sie morgens wegputzen müssen. «Sind wir Hotel gratis oder was? Wenn die Schlafenden nicht aufstehen, holen wir die Polizei.» Die dunkelhäutige Putzfrau hingegen, die drüben im Terminal 2 unterwegs ist, würde das nie machen. Obwohl, auch sie muss jeden Morgen an verschlossenen WC-Türen rütteln, hinter denen Leute schlafen. Das Überleben wird halt auch am Flughafen immer härter, die Konkurrenz grösser und damit auch die Probleme. Kris erzählt von Diebstählen untereinander oder Pöbeleien. Wie neulich, als der eine schlafen wollte und der andere reden, die beiden aufeinander losgingen, sie dazwischenging, «Hey, cool down», und sich gerade noch selbst retten konnte vor einer Attacke mit dem Regenschirm.

«Ich will mich nicht beklagen. Wer sonst hat schon das Glück, in so einem Riesenhaus zu wohnen?»

Flughafenpolizei und Management aber wollen die Lage im Griff haben. «Es war schon schlimmer», sagt Terminalmanager Roger Bannwart unter der Anzeigetafel beim Check-in 1. Er und sein Team sind von halb sechs Uhr morgens bis halb zwölf abends unterwegs in diesem Kommen und Gehen. Früher hätten Randständige bei den Schaltern angefangen zu rauchen oder sich draussen auf Gepäckwagen gesonnt. Heute hingegen würden sich die meisten anpassen an den täglichen Strom von über 80000 Menschen. In «krassen» Fällen, wie etwa dieses Mannes, der sich neulich unbekleidet im WC waschen wollte, sucht Bannwart erst das Gespräch, dann die Polizei. Grundsätzlich aber gibt es weder mehr Diebstähle, noch müssen häufiger Hausverbote erteilt werden. Was dem Terminalmanager aber auffällt, ist die Zunahme von «psychisch Kranken». Menschen zum Beispiel, die meinen, vom Geheimdienst verfolgt zu werden. Andere wiederum geben bei der Bordkartenkontrolle an, ihr Ticket im Transit vergessen zu haben. Hinter den dicken Glaswänden aber darf definitiv niemand wohnen. «Solange die Leute sauber sind, nicht stehlen, keine Passagiere belästigen und auch sonst nicht negativ auffallen, fahren wir die Strategie der Toleranz.»

Manchmal, sagt Kris, habe auch sie genug von diesem ständigen Rambazamba am Flughafen. Dann sehnt sie sich schon nach einem richtigen Bett, einem eigenen WC und ihren Freunden von früher. In diesen Momenten schiebt sie ihren Gepäckwagen in den Lift und fährt hoch zum mittleren Parkdeck, wie immer, wenn sie ihre Ruhe haben will. Denn dort oben auf dem Dach des Airport-Centers kann sie die Menschen sehen, aber die Menschen sie nicht. Ausser die Discokinder, die sich hier manchmal warm trinken. Kris geht schweigend an ihnen vorbei, auf die andere Seite, wo sie sich vor die Glasscheibe hockt, einen Arm um Hund Blu legt und hinabschaut auf ihren Flughafen – ihr Zuhause.