Ihr Haar leuchtet schneeweiss und ist wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie zieht einen kleinen Rollkoffer durch den Berliner Hauptbahnhof, abgewetzt von den vielen Reisen. 300 Tage im Jahr ist Jane Goodall unterwegs, Konferenzen, Vorträge, Interviews. Ihre Mission: Retten, was noch zu retten ist.
Irgendwo zwischen Halle und Erfurt nimmt sie sich kurz Zeit für ein Gespräch. Die Umweltikone gibt sich gütig, aber wild entschlossen. Dass sich die Mitreisenden über das Geflüster im Ruheabteil aufregen, ist ihr egal. Und wenn Bahndurchsagen sie unterbrechen, sagt sie: «Oh, shut up.»
NZZ am Sonntag: Mit 26 gingen Sie zu den Schimpansen im Dschungel und kamen als Aktivistin zurück. Heute sind Sie 85 Jahre alt und engagiert wie eh und je. Trotzdem sind rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht, und die Welt wird immer wärmer. So schlimm war es noch nie, hat man das Gefühl. Kämpfen Sie manchmal auch gegen den Gedanken, gescheitert zu sein?
Jane Goodall: Nein, ich bin nicht gescheitert. Aber die menschliche Spezies ist sehr damit beschäftigt zu scheitern. Es gibt nur einen grossen Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen oder anderen Tieren – den Intellekt. Wir können von Vergangenem erzählen und in die Zukunft denken. Wir können über die Konsequenzen unseres Handelns nachdenken. Wir können sogar Raketen bauen, die zum Mars fliegen. Aber hier sind wir, die intelligentesten Wesen des Planeten, und zerstören unser Zuhause. Warum?
Unwissen, Gier, Hybris? Sagen Sie es uns?
Die Verbindung von Verstand und Herz scheint gebrochen. Unser Potenzial leben wir nur aus, wenn beides zusammenarbeitet. Und dieses Potenzial ist riesig. Ob wir es nutzen oder nicht, liegt nicht in meinen Händen. Aber alle Menschen, die ich erreiche, verändern sich. Gut, nicht alle, aber ziemlich viele. Sie sagen mir: Ich verspreche Ihnen, ich tue meinen Teil. Zu viele tun nichts, weil sie sich hoffnungslos fühlen. Mein Job ist, ihnen Hoffnung zurückzugeben.
Hoffnung? Eine neue Generation von Umweltschützern fordert zu zivilem Ungehorsam auf, weil zu lange nur geredet wurde. Die Aktivisten von Extinction Rebellion blockieren Brücken und legen ganze Städte lahm, um auf die drohende Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Warum haben Sie sich nie radikalisiert?
Natürlich macht der Zustand des Planeten auch mich wütend. Aber diese Wut spornt mich an. Menschen zu attackieren, ist jedoch der falsche Ansatz. Weil sie einem nicht mehr zuhören. Tierrechtsaktivisten zum Beispiel sind oft aggressiv, sie zeigen mit Fingern auf Andersdenkende. Das funktioniert nicht. Ich erzähle Geschichten, um die Herzen der Menschen zu erreichen. Googeln Sie zum Beispiel einmal Pigcasso, das malende Schwein.
Nicht zu verwechseln mit Picasso.
Nein. Pig-casso! Das Schwein, das von einer Künstlerin aus dem Schlachthof gerettet wurde. Beim Malen fiel ihr auf, wie interessiert es an ihren Farben und Pinseln war. Es ist unglaublich, aber dieses Schwein liebt es, zu malen! Wenn es nur schon einen Pinsel sieht, fängt es an zu grunzen. Wer das sieht, wird nie wieder gedankenlos Fleisch essen. Ich bin übrigens auch stolze Besitzerin eines Werks von Pigcasso.
Mit solchen Feelgood-Geschichten touren Sie als Rockstar der Umweltbewegung um die Welt wie einst Mick Jagger mit den Rolling Stones. Sie werden als Legende gefeiert, und für manche sind Sie gar so etwas wie eine Heilige.
Ach, dieses Ikonenbusiness wurde von «National Geographic» kreiert und den Filmern, die bei mir im Dschungel waren, die Schöne und das Biest und so weiter. Das entspricht mir nicht. Manchmal bin ich selbst überrascht, wenn ich auf mein Leben zurückschaue. Es wirkt so unmöglich: Als junges Mädchen nach Afrika gehen, ohne Geld, ohne Ausbildung, im Urwald leben, Schimpansen beobachten und für die Natur kämpfen. Daraus ist ein Bild entstanden, das ich inzwischen akzeptiert habe und für meine Zwecke nutze. All den jungen Leuten, die zu mir kommen und Selfies machen wollen, sage ich, sie sollen anfangen, etwas zu tun.
Laut Ihrem Freund und Vorbild Gary Haun, dem blinden Zauberer, sind Sie das Licht in diesen finsteren Zeiten. Passt das besser?
Ja. Aus diesem Grund kommen so viele Menschen an meine Vorträge. Sie suchen alle nach Hoffnung.
Haben wir noch Anlass dazu? Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen hat mit seinem öko-apokalyptischen Essay für einen Aufschrei gesorgt. Die Klimakatastrophe sei unvermeidlich, findet er, jedes Handeln komme zu spät, die Chance sei verpasst. Sie hingegen sagen . . .
. . . dass es ein Zeitfenster gibt. Aber das geht zu. Wir werden nie mehr wiederherstellen, was wir verloren haben. Aber wir können den Prozess verlangsamen. Wäre ich nicht davon überzeugt, würde ich nicht nonstop herumreisen, um den Menschen immer wieder zu sagen: Jede kleine Entscheidung kann einen Unterschied machen, Tag für Tag. Was kaufen wir? Woher? Von wem? Leiden Menschen dafür, Tiere oder die Umwelt?
Die Frage ist, was das Richtige ist. In der Kritik steht auch die Prioritätenverschiebung im Umweltschutz. Früher kümmerten sich Naturschützer um Tiere oder Pflanzen. Im Schatten der CO2-Fixierung, heisst es, würden kleinere Projekte vernachlässigt. Es sei sogar schwieriger geworden, Gelder zu sammeln.
Ich nehme das nicht so wahr. Auf meinen Reisen sehe ich so viele Projekte. Teil des Problems ist, dass diese kleinen Aktivitäten nicht von den Medien aufgenommen werden. Natürlich ist da viel Verderben und Finsternis, aber nicht nur. Und Geldsammeln ist heute sogar leichter geworden. Hoffnung hat, wer etwas tut. Am WEF in Davos war Nachhaltigkeit das Thema. Es geht in die richtige Richtung.
Welche Fehler hat die Umweltbewegung gemacht?
Die Menschen auszuschliessen. Ich habe schon in den achtziger Jahren einen holistischeren Ansatz verfolgt, um die Schimpansen von Gombe zu retten. Wir unterstützen die Einheimischen zum Beispiel bei der Schuldbildung oder bei der Familienplanung. Sie sollen sich eine Existenzgrundlage aufbauen können, ohne den Wald zu plündern. Und so fangen die Leute an zu verstehen: Wenn du einen Schimpansen rettest, dann rettest du den Wald, und wenn du den Wald rettest, dann rettest du auch die anderen Tiere und deine eigene Zukunft. 1991 haben wir mit unserem Jugendprogramm angefangen, jetzt kommen viele in entscheidende Positionen. Der Umweltminister von Tansania zum Beispiel. Er leistet jetzt da Arbeit, wo ich als junges Mädchen angefangen habe.
Sind Frauen die besseren Naturschützer?
Nein.
Frauen engagieren sich häufiger für die Natur. Die Klimabewegung wird von Frauen wie Greta Thunberg getrieben.
Es gibt auch viele Männer, die wundervolle Arbeit leisten.
Hat der Anthropologe Louis Leakey das nicht ein bisschen anders gesehen? 1960 sandte er Sie als Schimpansenforscherin los, obwohl Sie vor allem Sekretärin waren. Neider behaupteten, er hätte Sie bloss Ihrer Schönheit wegen in den Dschungel geschickt.
Er mochte junge Frauen. Das stimmt. Aber er wollte auch jemanden, der den Tieren ohne Vorurteile begegnete. Die Verhaltensbiologie war damals sehr rigide. Und Louis glaubte, dass Frauen besser beobachten, weil sie geduldiger sind und ruhiger. Wer eine gute Mutter sein will, muss auch Geduld haben und eine gute Beobachtungsgabe, um die Bedürfnisse von Babys zu verstehen. Aus denselben Gründen schickte er Dian Fossey zu den Gorillas, die auch keine wissenschaftliche Ausbildung hatte. Ein weiser Mann.
Eine Frau allein unter wilden Tiere war in der patriarchalischen Welt von damals auch die bessere Geschichte. Es brachte mehr Aufmerksamkeit und Forschungsgeld. Sie sagten es bereits: «National Geographic» stilisierte sie zum Postergirl.
Besonders irritierend war, dass man dem Filmer Hugo van Lawick, meinem späteren Ehemann, eine Auftragsliste von allem gab, was er aufnehmen sollte: Jane beim Haarewaschen, Jane am Strand, Jane beim Schwimmen. Da sagte ich: «Nein, das werden wir nicht tun. Es gibt schon genug Beine und Shorts, im Badeanzug muss man mich nicht auch noch sehen.» Darum mag ich die neueren Filme über mich viel mehr. Sie sind realistischer und zeigen mich auch als Ehefrau oder Mutter, die Kind und Karriere unter einen Hut bringen muss. Und sie zeigen auch Krieg unter den Schimpansen, ihre Krankheit oder Trauer.
Sogar das umstrittene Bananenfüttern kommt vor, einer der weniger glorreichen Momente Ihrer Karriere. Bereuen Sie das?
Natürlich ist mir heute klar, dass wir Schimpansen und überhaupt alle wilden Tiere nicht füttern sollten. Aber damals war die Welt eine andere. All diese Leute von den Universitäten haben auch zugefüttert. Wir wussten nicht, dass sich die Schimpansen bei uns Krankheiten holen könnten. Wir wussten nur, wie nahe wir ihnen dank den Bananen kamen und wie magisch das war.
Es heisst, Sie hätten Ihre Forscherkarriere mit Regenwürmern unter der Bettdecke begonnen.
Das hat meine Mutter gerne erzählt. Meine erste Tierbeobachtung fand jedoch im Hühnerstall statt. Ich wollte wissen, woher die Eier kommen.
Sind Sie tatsächlich so lange verschwunden, dass Ihre Mutter die Polizei anrufen musste?
Ich liebe Tiere halt einfach. Sie zu beobachten, war für mich selbstverständlich. Als Kind verbrachte ich viel Zeit mit meinem Hund Rusty, der nebst meiner Mutter mein weisester Lehrer war. In dieser Zeit dachte man ja, Tiere hätten weder Gefühle noch eine Persönlichkeit. Dank Rusty wusste ich schon damals, wie falsch alle liegen. Ich habe zudem viel gelesen, Dr. Dolittle, Tarzan, der die falsche Jane geheiratet hat. Und so verliebte ich mich in ihn und in die Idee, im Dschungel unter wilden Tieren zu leben.
Wer hat Ihnen mehr Angst eingejagt, die Affen oder die Wissenschaftselite?
Die Forscher waren mir egal. Ich wollte Schimpansen beobachten. Aber die rannten vier Monate lang vor mir weg, sie hatten ja nie zuvor so einen weissen Affen gesehen. Eine Weile haben sie mich wie ein Raubtier behandelt, mich angeschrien, Äste über mir geschüttelt und sogar Dinge nach mir geworfen. Meine Beine haben zwar gezittert, aber ich habe so getan, als würde ich Blätter essen oder ein Loch bohren. Angst hatte ich nur vor den Männern aus den nahen Dörfern. Sie wollten mich vertreiben und fällten im Morgengrauen alle Bäume bei meinem Zelt. Sie dachten, sie würden mich im Bett fangen, glücklicherweise war ich schon in den Hügeln. Menschen sind viel gefährlicher als Tiere.
Was können wir von Tieren lernen?
Weniger arrogant zu sein. Und realisieren, dass wir nicht die einzigen denkenden und fühlenden Kreaturen sind. Als ich nach meinen Feldforschungen mit einer Sondergenehmigung zum Doktorieren an die Universität Cambridge ging, hörte ich ständig, ich solle den Schimpansen keine Namen geben, sondern nur Nummern. Ich solle nicht über ihre Persönlichkeiten oder Emotionen sprechen und keine Empathie haben.
Mit Ihren Beobachtungen revolutionierten Sie, wie wir über Tiere denken und letzten Endes über uns selbst. David Graybeard nannten Sie den Schimpansen, der mit einem Grashalm nach Insekten in einem Termitenbau fischte und bewies: Nicht nur Menschen nutzen Werkzeuge.
Für die Forschung war diese Erkenntnis am wertvollsten, es gab Geld, man konnte nicht länger sagen, ach, glaubt dieser Jane doch nicht, sie ist nur ein Mädchen und hat nicht einmal ein Diplom. Für mich war die Fülle an Beobachtungen aber viel prägender. Wie ähnlich uns Schimpansen sind, wie sie sich küssen und einander an den Händen halten, aber auch der Schock, dass sie Kriege führen und einander umbringen.
Affen wie wir.
Genau.
Dominante Alpha-Männchen vergleichen Sie bisweilen mit dem Gebaren gewisser Politiker. Wie affig ist Donald Trump?
Männliche Schimpansen zeigen oft ähnliches Verhalten wie Politiker. Sie geben an, um grösser und mächtiger zu erscheinen. Das hat man im Wahlkampf zwischen Trump und Clinton besonders gut beobachten können. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich vergleiche Trump nicht mit einem Affen, ich sage nur, dass er ein ähnliches Verhalten zeigte wie männliche Schimpansen, die Alphas werden wollen.
Ihre Erkenntnisse stellten auch den Anthropozentrismus infrage, der Menschen in den Mittelpunkt allen ethischen Handelns stellt. Aber ohne den Verzehr von Fleisch hätte sich unser Gehirn nie so gut entwickelt, ohne die Domestizierung von Kühen wären wir nicht sesshaft geworden.
Das mag in westlichen Gesellschaften die Idee sein. Aber sie ist falsch. Indigene Kulturen stellten sich nicht über die Natur, ebenso wenig die Taoisten oder Buddhisten. Es ist eine Fehlinterpretation eines hebräischen Wortes in der Bibel: Es lautet Herrschaft. Darauf gründet die falsche Einstellung, dass der Mensch sich die Erde untertan machen und die Natur beherrschen soll.
Ist diese Verherrlichung indigener Kulturen nicht eine Illusion des Westens? Damals lebten wenige Menschen in reicher Natur. Und auch sie waren nicht alle bloss edle Wilde, wie Forschungen zeigen.
Wir zerstören die Natur und treiben damit unser eigenes Aussterben voran. Wir sind abhängig von Wäldern, sauberem Wasser, Luft. Die bessere Auslegung des Wortes wäre sicher Stewardship gewesen, der Mensch als sparsamer Verwalter der Ressourcen, wie es in indigenen Gesellschaften üblicher war.
Sind alle fühlenden Wesen gleich?
Wir sind nicht gleich. Nichts ist gleich. Aber Tiere haben Angst, fühlen Schmerz, Verzweiflung. Das ist einer der Gründe, warum man weniger oder kein Fleisch essen sollte. Die Grausamkeiten, die Tieren in Massentierhaltung angetan werden, sind schrecklich. Alle fühlenden Lebewesen verdienen Respekt und verdienen es, nicht gequält zu werden.
Was symbolisiert Fleisch oder Käse?
Angst, Schmerz, Tod.
Sie sind also vegan?
Zu Hause schon. Auf Reisen ist es schwieriger. Aber ich habe immer pflanzlichen Kaffeerahm oder vegane Butter dabei. Ich kämpfe für alle Tiere und spreche beispielsweise auch über die Intelligenz von Oktopoden. Ich sage nicht, dass das Leiden eines Menschen und eines Oktopus dasselbe ist, aber beide leiden, und darum ist es falsch.
Wie geht es eigentlich den Schimpansen in Ihrer spirituellen Heimat Gombe?
Leider hat es zu viele Touristen. Aber wir arbeiten inzwischen mit 104 Dörfern zusammen. Die Einheimischen realisieren, dass sie mit dem Wald nicht nur die Tiere, sondern auch ihr Überleben schützen.
Kann man die Bestände auf diese Weise wirklich nachhaltig vor Wilderei, Buschfleischhandel und Holzindustrie schützen? Craig Packer, Professor an der Universität Minnesota und Experte auf dem Gebiet der Erhaltung wilder Tiere, zweifelt daran.
Die Situation der Schimpansen mag dramatisch sein, aber in Gombe sind die Bestände relativ stabil. Die Hügel um den Nationalpark sind nicht mehr kahl. Wir konnten für die Tiere Waldkorridore schaffen und ihren Kontakt mit Artgenossen sicherstellen. Momentan versuchen wir, sie länderübergreifend zu verbinden. Aber der Waldgürtel ist leider für immer verloren.
Geht jemand wie Sie je in den Zoo?
Ja, weil ich auch für Zootiere kämpfe. Natürlich sehe ich Tiere am liebsten in Freiheit. Es gibt inzwischen viele Zoos, die Gutes tun. Kinder können den Tieren in die Augen schauen. Die Tiere wiederum haben Aufgaben. Es gibt Menschen, die ihr Verhalten verstehen. Sie sammeln Geld für den Artenschutz in der Wildnis. Ich kenne so viele engagierte Naturschützer, deren Interesse in Zoos geweckt worden ist. Dennoch fordern viele Tierrechtler Freiheit für alle Tiere. Die waren aber nie im Dschungel, wo Wilderer Schimpansenmütter schiessen und Babys stehlen. Sicher ist die Not der Zootiere unvergleichbar mit der Not der Tiere in der Wildnis. Schauen Sie, wie viele allein in den australischen Bränden starben: eine Milliarde!
Im Zürcher Zoo gibt es Elefanten. Richtig oder falsch?
Falsch. Elefanten, Delphine und Wale können in Zoos nicht glücklich sein.
Vor 100 Jahren wurden Afrikaner in Zoos ausgestellt. Wird es in 100 Jahren noch Zoos geben?
Kommt darauf an. Werden wir noch Wildnis haben? Ich weiss es nicht. Vielleicht bleiben uns am Ende nur Zoos.