Hunde, wollt Ihr ewig leben?

NZZ am Sonntag, 3. Februar 2017
Fotos von Bruno Augsburger
Sie kennen keine Angst, keinen Schmerz und kein Aufgeben. Unterwegs mit den Heldenhunden, die in den Schweizer Bergen Menschen aus Lawinen retten.

Vor wenigen Minuten ist am Gemsstock eine Lawine nieder­ gegangen. Der erste Rettungshund vor Ort heisst Yelko und ist ein Rambo von einem Schäfer. Er kämpft sich den Steilhang hinauf. Mit 300 Atemzügen pro Minute versucht er die Menschen zu wittern, die unter den Schneemas­sen begraben liegen. Aber das Gelände ist schwierig, die Luft eiskalt. So kalt, dass Gerüche nur langsam an die Oberfläche dringen. Es ist genau 13 Uhr 17. Der Wettlauf gegen die Zeit hat begonnen.

«Nach 20 Minuten ist es oft zu spät», sagt Marcel Meier, der Yelkos Einsatz von der Piste aus beobachtet. Meier ist Fachleiter Hunde von Alpine Rettung Schweiz. Auf der ganzen Welt bildet der gebürtige Einsiedler Lawi­nenhunde aus. Wäre Trump ein Hund, könnte dieser Mann einen selbstlosen Lebensretter aus ihm machen. Und jetzt, in diesen Januar­tagen hoch über Andermatt, entschei­det er im Team, welche Hunde bereit sind für den Ernstfall.

Yelko ist nun schon eine gefühlte Ewigkeit hinter den Felsen ver­schwunden. Endlich, um 13 Uhr 27, funkt Hundeführer Jürg Battaglia: «Mann gefunden, im Schock, muss zwei Helfer haben!» Meier nickt: «Warte, bis sie da sind. Und dann wei­tersuchen!» Es ist, als ginge es tatsächlich um Leben und Tod, als hätte man für die­ses Übungsszenario nicht extra zwei Männer in zwei Meter tiefen Schnee­löchern vergraben. Bald scharrt Yelko weiter oben am Hang wie wild im Schnee. Die Uhr zeigt 13 Uhr 39, «Rucksack gefunden!».

Der Einsatz scheint gut zu laufen. Nach 10 Minuten hat Yelko den ersten Menschen aufgespürt, nach 20 den ersten Rucksack, der etwa gleich schwer zu wittern ist wie eine tief ver­schüttete Person. Am Rapport am Ende des Tages wird Meier jedoch nicht ganz zufrieden sein. Der Fach­leiter wird mit seinen Klassenlehrern zudem über Problemfälle diskutieren: Ein Team ist entlassen. Drei Hunde müssen in Einzeltrainings. Und Taro, Meiers eigener Hund, ist verletzt.

8 Uhr 00. Andermatt liegt noch im blauen Schatten, die Temperaturen sind eisig. 33 Schweizer Rettungs­teams trainieren hier seit vier Tagen. Sie sind die Ersten, die morgens am Gemsstock sind, und die Letzten, die abends wieder runterkommen. Jetzt müssen sie vor den Skifahrern die Gondel erwischen. Ein letztes Mal die Ausrüstung checken, von der Sondier­stange bis zum Funk, alles da. Mitten­ drin steht Rudelführer Meier, 58, mit­telgross, kerniges Gesicht, mit der Ruhe einer leeren Landschaft.

«Es gibt nichts Schlimmeres als Hektik», sagt er, als die Seilbahn abhebt. «Nur wer Ruhe bewahrt, kann auch schnell sein.» So hat Meier in der Früh als Erstes einen Hundeführer nach Hause entlassen, dessen Frau hochschwanger ist. «Die Nervosität hat sich auf den Hund übertragen.» Unter den alpinen Rettern gilt: Der Hund liegt nie falsch. Das Problem ist immer der Mensch.

Aber auch nicht jeder Hund hat das Zeug zum Helden. Chihuahua? Zu klein. Terrier? Zu stur. Dogge? Zu schwer. Die Tiere müssen von Natur aus Workaholics sein und vor allem: Sie müssen gut riechen können. Auf eine Hundenase verteilen sich 220 Millionen Riechzellen, Menschen haben 5 Millionen davon.

Lange glaubte man, dass sich Deut­sche Schäferhunde am besten für die Suche eignen. Heute sind ihre Köpfe vor allem als Logo auf den Jacken der Bergretter zu sehen. Schäfer gelten zwar immer noch als Zehnkämpfer unter den Hunden. Man kann sie auf alles Übel der Welt ansetzen; Krimi­nelle, Geld, Feuer, Sprengstoff. Trotz­ dem sind Vertreter antimilitaristischer Rassen inzwischen populärer. Allen voran – die Labradore.

Die mittelgrossen Hunde aus der Familie der Retriever sind zwar vor allem dafür berüchtigt, in den Geschirrspülmaschinen ihrer Besitzer die Teller abzulecken. Aber auch Mar­cel Meier, fast 30 Jahre dabei, hat sich nach einem Pudelpointer und drei Schäferhunden für einen Labrador entschieden. Die Hunde sind einfach und sehr arbeitsfreudig.

Zum Beispiel Woya: Mit zweieinhalb Jahren zählt sie zu den Jüngsten, die auf 2961 Metern mit wedelndem Schwanz in den Schnee traben. Von den vier Ausbildungsmo­dulen, die nach dem Prinzip «Anler­nen, festigen, anwenden» aufgebaut sind, hat sie das erste absolviert. Jetzt soll das zweite mit einer Prü­fung abgeschlossen werden. Dafür zählt auch die nächste Übung: Heli­kopter fliegen.

Woya ist rot wie ein Fuchs und sportlicher gebaut als her­kömmliche Labradorhunde. Water­fan’s Lucky Star Woya, so ihr Zucht­name, hat ja auch einen Arbeiter­hintergrund. Ihre Eltern apportieren auf der Jagd totgeschossene Vögel.

Trotzdem hat Woya einen sanften Charakter, den man als typisch Labra­dor bezeichnen kann: Sie ist eine Pazi­fistin. Sie könnte auch als Vegetarierin leben und für Karotten über ihre Grenzen gehen. Zudem besitzt sie eine «Wir schaffen das»­-Mentalität. Wobei Woyas «Wir» ein duales ist: In ihren Augen leuchtet bedingungslose Liebe. Immer sucht sie den Blickkon­takt zu ihrer Besitzerin Karin Schmid. Das hat in Woyas Sprache viel zu bedeuten. Du bist mein Alpha. Für dich tue ich alles.

Alles heisst jetzt, zwischen den Ski den Berg runtersausen, an dem sich die Hundeführer als gelbe Punkte auf sechs Übungsfelder verteilen. Alles ist das Resultat von unendlich viel Trai­ning, Konsequenz und «wursteln»: Von klein an hat Woya gelernt, dass auf Nasenhöhe manchmal auch feine Häppchen hängen, an Bäumen im Wald zum Beispiel. So hat Woya gemerkt: Aha, wenn ich die Nase hoch trage, gibt es vielleicht – Wurst. Später schaute sie zu, wie Menschen im Schnee vergraben wurden, und bud­delte sie danach wieder aus. In ihren Taschen fand sie – Wurst. Und heute, wenn Woya von selbst Personen aus­ gräbt, dann gibt es in jedem Fall – Wurst.

9 Uhr 30. Der Helikopter landet an dem Schattenhang, wo die Junghunde ihrem ersten Flug mit unterschied­licher Begeisterung entgegensehen. Woya winselt vor Aufregung, Hope will spielen, Eri wedelt, Maddoc, er wälzt sich, und Filou schlottert oder bellt.

Jetzt muss es schnell gehen. Das Rega­Team ist auf Pikett, jede Minute kann ein Notruf eingehen. Nach der Trockenübung ohne Motor gibt Mar­cel Meier die letzten Anweisungen: Hunde festhalten, gegen den Abwind halten, keine Panik, nicht aufstehen, bloss nicht.

Die Ersten reihen sich auf, Knie an Knie: Fachleiter, Hund, Hundeführer, Rega­-Rettungssanitäter. Mit ihren Helmen sehen sie aus wie die Solda­ten in «Platoon». Türen zu, Motoren an, hinein in den Helikopter, eine Runde fliegen und wieder landen. Weiter. Ein Hund nach dem anderen verschwindet im Sturm des Abwinds. Als sich der aufgewirbelte Schnee ein­mal mehr lichtet, liegt Woyas Besitze­rin am Boden und drei Meter daneben der Hund – frei.

«Das darf nie, nie, nie passieren», sagt Marcel Meier am «Debriefing». «Kommt der Hund in den Heckrotor, wird es sehr gefährlich.» Er mag zuweilen ein bisschen autoritär klin­gen, und das kommt nicht bei allen gleich gut an. Aber Meier weiss aus persönlicher Erfahrung, dass im Not­fall alles perfekt ablaufen muss. Vor 30 Jahren musste seine schwangere Frau notfallmässig ins Spital geflogen werden. Wäre etwas schiefgegangen, würden seine Zwillinge heute viel­ leicht nicht am Leben sein. Darum wollte der Bauunternehmer, Berg­gänger und Hundefan «etwas retour geben».

Heute sucht er zusammen mit 100 alpinen Rettern nach Menschen, die in den Bergen verloren gehen. Sie sind sowohl im Winter unterwegs als auch im Sommer. Dabei müssen sie vor allem mit der Tatsache klarkommen, oft zu spät zu sein. Bis zu 25 Men­schen sterben jedes Jahr in den archaischen Höhen der Schweizer Berge. Es wurden in den letzten Jah­ren zwar weniger, weil die Leute bes­ser ausgerüstet sind und öfter mit Bergführern unterwegs sind. Trotz­ dem bleiben immer wieder Winter­sportler kopfüber im Schnee stecken oder ersticken gar darin. Meistens sind es nur wenige Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden.

13 Uhr 42. Die Zeit läuft für Yelko und gegen die zweite Person, die seit 25 Suchminuten vergraben ist. Der Schäfer hält immer wieder die Nase in den Wind, nach links, nach rechts. «Aber jetzt muss er sich lösen», sagt Marcel Meier. Lösen umschreibt, wie selbständig ein Hund sucht und sich dabei von seinem Besitzer entfernt. Es ist nur eines von vielen Codewörtern. Die Bergretter reden auch oft vom Surren (hochmotiviert suchen) oder Anzeigen (an der Fundstelle im Schnee scharren). Aber das Lösen ist definitiv eines der meistbesprochenen Themen. Ist es passiert? Wann? Und vor allem: Wie weit?

40 Meter Abstand müssten es jetzt sein, mindestens. Yelko mag sich aber nicht viel weiter als 20 Meter von sei­nem Herrchen entfernen. Dabei ist der Belgische Schäfer, Zucht von der Roten Platte, schon länger im Einsatz, Modul 4, höchstes Ausbildungsni­veau, Kosten um die 25 000 Franken. Vielleicht liegt es am tiefen Schnee oder am steilen Terrain. Vielleicht ist auch dieser Rambo langsam müde. Schliesslich hat er als Teil seiner Prü­fung schon einen einstündigen Auf­ stieg hinter sich. Auch Profis müssen immer wieder beweisen, dass sie ein­satzfähig sind.

Einfach ist es so oder so nicht: Die Anforderungen sind hoch. Leistungen werden an ewigen Hundelegenden gemessen. Marcel Meiers Labrador Ragweed’s Taro zum Beispiel ist auf dem besten Weg zum Superman. Er wird von allen mit Adjektiven wie «sackstark» beschrieben. Taro, heisst es, kennt keine Angst, kein Aufgeben, nichts.

Als Junghund ist er aus einem Fens­ter im ersten Stock gesprungen, um einem Kollegen hallo zu sagen. Heute sucht er allein auf Distanzen bis zu 400 Metern und scheint die Verschüt­teten schon zu wittern, bevor er aus dem Helikopter raus ist.

Jetzt soll auch er noch eine Such­ runde drehen, nur so zum Spass. Nachdem Woya bewiesen hat, dass sie einsatzbereit ist, und auch Yelko den zweiten Mann nach 30 Minuten gefunden hat. Als Marcel Meier seinen Taro in der Bahnen-­Werkstatt los­ bindet, verwandelt sich das anmutige Tier in ein schwarzes Freudenknäuel. Und in dieser Euphorie sind auch die grössten Hundehelden nicht gegen die banalsten Gefahren gefeit: Taro bleibt an der Gittertreppe hängen und reisst sich eine Kralle aus.