«Ich bin eher weiblich»

NZZ am Sonntag, 1. Januar 2017
Fotos von Ian Ehm
Aber keine Bange. Reinhold Messner hält immer noch einiges aus. Neuerdings wohnt er in einer Höhle. Der Bergsteiger über sein Selbstverständnis als Mann und die Sorgen, die ihm die jungen Männer bereiten.

Sophia Loren sagte: «Von schönen Männern halte ich wenig. Sie sollten einfach männlich sein, aber ich kann nicht sagen, was das ist. Ich kann es an praktische Dinge knüpfen, etwa daran, was Cousteau, der Meeresforscher macht, oder dieser Tiroler, der Messner.»

Also ich kenne diesen Satz nicht. Und ich fühle mich überhaupt nicht als personifizierter Urmann! Mein Tun hat mit Männlichkeit nichts zu tun. In meinem Weltbild sind Frauen immer schon zu den genau gleichen Taten und Erfahrungen fähig gewesen. Ich war ja mit der Erste, der gegen alles andere angeschrieben hat. Und genau deswegen haben mich die älteren Bergsteiger auch so in die Mangel genommen und gesagt, der Messner, der redet ja wie ein Weichling oder eine Frau.

Trotzdem verkörpern Sie den Archetyp eines Tatmenschen, der mit Eigenschaften wie Kraft oder Ausdauer verbunden wird.

Tatmensch ja, weil ich die Gabe besitze, meine Träume zu leben. Ich habe die Kraft, mich in meinem Handeln auszudrücken. Aber ich kenne viele Frauen, die das genauso strikt tun. Dass Alpinisten immer noch so heroisch daherkommen, hat mit der Politik in den zwanziger und dreissiger Jahren zu tun. Der Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland haben Bergsteiger zu Helden stilisiert. Dabei waren sie gar keine. Ich kann diese heroischen Spiele nicht ertragen.

Welche Spiele?

Ach, diese Macho-Angelegenheiten. Auf den Hütten wurden ungute Witze erzählt. Die Männer haben sich als Helden gebärdet, weil sie so erzogen wurden. Dabei hatten sie genau dieselben Ängste, Zweifel und Schwächen wie wir anderen, die das Heldentum abgestreift haben. Peinlich.

Was sagt der folgende Messner-Satz über Ihr Männerbild aus: «Das Animalische in uns ist tiefer angelegt als der Intellekt.»

Gar nichts! Das Animalische ist in uns allen angelegt worden, als wir noch im Tierreich unterwegs waren. Wir haben uns ja erst in den letzten paar 100 000 Jahren zum Homo sapiens entwickelt. Diese Erfahrungsgeschichte ist schon viel länger in unseren Genen als die menschliche. Darum setzt sich der Instinkt in kritischen Situationen immer durch. Eine Frau zum Beispiel handelt wie ein wildes Tier, wenn ihr Baby bedroht ist. Sie entwickelt Kräfte, von denen sie gar nichts weiss. Das Gleiche gilt natürlich für den Mann.

Sie sind eher der animalische Typ?

Natürlich habe ich auch einen Intellekt, den ich nutze, um Korrektive zu machen oder mich überlegt zu verhalten. Aber wenn es hart auf hart geht, ist der Intellekt viel zu langsam. Stellen Sie sich vor: Sie klettern in einer Felswand, und hoch über Ihnen bricht ein Stein raus. Wenn Sie jetzt anfangen zu rechnen, Masse mal Geschwindigkeit gleich Energie, dann sind Sie erschlagen, bevor Sie die Rechnung fertig haben.

Sind eigentlich Frauen oder Männer die besseren Bergsteiger?

Beide haben die gleichen Möglichkeiten. Im Höhenbergsteigen sind Frauen schneller und besser akklimatisiert. Im Felsklettern können sie tänzerischer und eleganter sein. Wenn sie mit ihren sportlichen Leistungen 25 Jahre hinter den Männern herhinken, hat das nur damit zu tun, dass sie am Berg lange Zeit nicht geduldet waren.

«Die grosse Fähigkeit des Bergsteigens», sagten Sie einst, «ist Leidensfähigkeit. Darum tun sich Frauen auch leichter damit, hohe Berge zu besteigen, als wir hypochondrischen Männer.»

Das kann ich Ihnen von meinen Expeditionen bestätigen: Männer sind viel hypochondrischer veranlagt. Beim kleinsten Problem haben sie sofort Sorgen.

Sind Sie auch so?

Ich bin fast nie krank, aber ich spüre die kleinsten Momente des Unwohlseins. Schon beim Anflug einer Erkältung sage ich: «Oh, mir geht’s nicht so gut, ich steige besser nicht in die Route ein.» Natürlich habe ich gelernt, mich zu beherrschen und mit einer leichten Verkühlung auf die Bühne zu gehen. Mein Erfolg hängt aber auch damit zusammen, dass ich alles essen kann und fast nie krank werde. Die letzten tausend Termine habe ich alle eingehalten. Und jammern tue ich auch nicht. Ganz Europa jammert nur noch. Das geht mir so auf die Nerven, dass ich nicht mehr jammere.

Nun ja, IS, Brexit, Trump, Syrien – die Zeiten waren schon rosiger.

Es gibt sicher viele Dinge, die nicht unbedingt in eine positive Zukunft weisen. Aber die Schuld an unserer Situation in Europa, wenn wir von Schuld sprechen wollen, die haben nicht Ausländer oder fremde Kräfte, sondern nur wir selber.

Inwiefern?

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es der Welt viel schlechter gegangen. Trotzdem war immer Hoffnung da, mit Einsatz und Kreativität ging es aufwärts. Jetzt ist die Grundhaltung ins Negative gekippt, das finde ich schade. Warum sagen eigentlich alle, wir seien verloren? Es geht den Europäern so gut wie noch nie, es gibt nichts zu jammern. Ausserdem hat jede Generation die Möglichkeit, die Welt neu zu erschaffen oder neue politische Systeme zu erfinden. Aber es fehlt an Elan und Lebensfreude. Die jungen Leute gehen ja nicht einmal zur Wahl, das heisst, sie sind gar nicht darum bemüht, die besten Köpfe in die Verantwortung zu holen.

Die jungen Männer zum Beispiel scheinen sich mehr Gedanken über ihre Gesichtsfrisuren zu machen. Warum ist der Messner-Bart so populär?

Also mein Bart, der ja ziemlich anarchisch wirken könnte, ist nicht unbedingt Vorbild für die heutigen Männer. Die haben eher einen Drei- bis Viertagebart.

Nein, nein! Die tragen denselben Bart wie Sie.

Das ist mir noch nicht aufgefallen. Ich will jetzt auch kein Exempel hergeben für Bartmode. Ich habe mir einen Bart wachsen lassen, weil rasieren in der Wildnis zu kompliziert ist. In den Bergen oder in der Antarktis ist es ja sehr kalt. Da habe ich den Bart manchmal mit der Schere geschnitten, damit keine Eiszapfen hängen bleiben. Sie sehen, das ist eine ganz praktische Angelegenheit. Aber ich bin schon vor vierzig Jahren für meinen Bart kritisiert worden und musste mir Sätze wie: «Der Messner hat Schamhaare im Gesicht», anhören. Mich stört das alles nicht.

Aber heute, im Zeitalter des Neu-Feminismus, ist Ihr Bart stilbildend. Wie erklären Sie sich das?

Ich habe ein Leben lang gegen all diese Geschlechterklischees angeschrieben. Bergsteiger sind normale Menschen. Zu Macho-Figuren wurden sie erst um die vorletzte Jahrhundertwende gemacht. Und jetzt kommt diese Haltung in manchen politischen Gruppierungen zurück. Ob sie sich dabei an Alpinisten oder Bartträgern ein Exempel nehmen, weiss ich nicht. Ich sehe allerdings, dass das Nationalistische auch wieder ins Bergsteigen kommt. Ich habe mich immer als Weltbürger gesehen, der zufällig auf Berge gestiegen ist. Heute heisst es wieder: «Ich bin der erste Österreicher», der dieses oder jenes gemacht hat, oder «der erste Deutsche».

Ist der neue Nationalismus auch als Krise der Männlichkeit zu deuten?

Nein. Die Leute suchen Sicherheit, weil sie keine in sich tragen. Also erwarten sie, dass in ihrem Umfeld Absicherung geschaffen wird, für Arbeitsplätze oder genügend Einkommen. Damit geht das Misstrauen gegen fremde Kräfte einher, gegen Ausländer oder andere Religionen. Und so entsteht der Glaube, dass die Sicherheit nur national verteidigt werden kann. Die neuen Feindbilder kommen aus Syrien und Nordafrika, aber leider ist das wieder das alte Bild.

Inwiefern?

Statt den Nationalismus endlich in den Wind zu schlagen und zu erkennen, dass er uns die grossen Kriege im letzten Jahrhundert gebracht hat, kommt er zurück. Politiker wie Konrad Adenauer oder Helmut Kohl haben verstanden, dass der Nationalismus sich verlieren muss, wenn wir in Europa Frieden finden wollen. Aber die breite Masse hat das nicht verstanden. Und darunter gibt’s natürlich eine grosse Zahl von Machos, die gern wieder Krieg spielen würden.

Mit dem IS oder dem Trumpismus finden traditionelle Geschlechterbilder eine immer grössere Anhängerschaft. Ist diese Entwicklung auch eine Rache der verunsicherten Männer?

Das ist mir völlig wurscht. «Trumpismus» finde ich aber einen guten Ausdruck, den höre ich heute zum ersten Mal. Es gab ja immer Machthaber, die eine politische Richtung erfunden haben, und in diesem Fall scheint es wirklich so zu sein. Mag sein, dass Menschen Trump mögen, weil sie einen Machttrieb haben und andere unterdrücken wollen. Aber das wäre ein ganz schlechtes Zeichen. Ich bin auch anarchisch veranlagt, aber ich kann diese Veranlagung nur in der Wildnis ausleben. In der Zivilisation haben wir uns alle unterzuordnen, weil wir Teil eines Ganzen sind. Wenn ich in eine archaische Welt gehe, wo es keine Gesetze gibt, keine Obrigkeit, kann mir auch der Trump den Buckel runterrutschen.

Der würde am Everest wohl ohnehin ziemlich alt aussehen.

Da oben zeigt sich auf jeden Fall das wahre Menschsein. Hängt ein Mensch in einer Wand, wird er nackt, mit all seinen Fehlern und Ängsten. Man ist gezwungen, Farbe zu bekennen, und kann auch sein Grossmaultum nicht verstecken. In der Stadt hingegen kann sich ein kleines Würstchen aufspielen, wenn er ein paar Milliarden Dollar hat und Präsident von Amerika werden will.

Was macht für Sie einen grossen Staatsmann aus?

Leute, die Macht ausüben wollen, sollten sie nie kriegen. Präsident sein heisst, Verantwortung zu tragen, und nicht, mit Macht zu prahlen.

Dazu passt dieser Messner-Satz: «Wir Männer sollten unsere Anima-Seite entwickeln und nicht den Übermenschen spielen.» 

Anima steht für die weibliche Seite. Die Empathie zum Beispiel. Frauen haben viel mehr Mitgefühl als die meisten Männer. Ich bin in dieser Beziehung auch eher weiblich getrimmt. Ein Beweis dafür ist, dass die grössere Zahl meiner Mitarbeiter Frauen sind. Ich komme einfach viel besser mit ihnen aus.

Sie sind angeblich auch ein Fan des Matriarchats. 

Ja, weil es erfolgreicher war als das Patriarchat. Als die Menschen sesshaft geworden sind, haben die Männer die Frauen abgerichtet, die Äcker zu bearbeiten und die Tiere zu melken. Sie selbst hatten nichts mehr zu tun. Und wenn Männer nichts zu tun haben, fangen sie an, Krieg zu spielen. Die Welt wäre sicher friedlicher, wenn mehr Frauen an der Macht wären.

Wie sind Sie zu dieser Erkenntnis gekommen?

Schon im Kindesalter. Mein Vater bestimmte nach aussen, dabei sagte meine Mutter, wo es langging. Später war ich in Gegenden, wo das Matriarchat noch lebt, in Tibet zum Beispiel. Und heute haben wir in Deutschland eine Frau, die in der Flüchtlingsfrage sehr viel Empathie gezeigt hat. Nur ist ihr das politisch nicht bekommen, weil Empathie in einer Männerwelt nicht gut ankommt.

Und bei Ihnen zu Hause? Wer bestimmt?

Meine Frau. Sie regelt das Familienleben, sagt, wen wir treffen oder welche Reise wir machen. Dafür habe ich den Freiraum, aufzubrechen, wohin ich will. Man hätte die Rollen aber auch umdrehen können.

Reinhold «Everest» Messner hätte sich ein Leben als Hausmann vorstellen können?

Ich war halt schon ein Abenteurer, als wir uns kennengelernt haben. Aber ich konnte mein Leben nur deshalb so leben, weil ich den Freiraum von Frauen geschenkt bekommen habe. Ich bin in jungen Jahren von meiner Mutter entlassen worden, ohne dass sie jemals gejammert oder ihre Ängste geäussert hätte. Und ohne meine Frau und unsere drei Kinder wäre ich auch nicht derjenige, der ich heute bin.

Stört es Sie wirklich so sehr, als einer der letzten atmenden Helden wahrgenommen zu werden?

Also ich kann mir schon vorstellen, dass manche Leute sagen: «Was hat der Messner nicht alles gemacht, der muss Kraft haben und Entscheidungsfreude und über alle hinweggehen.» Aber in Wirklichkeit habe ich alles nur in vielen tausend kleinen Schritten geschafft. Ich habe meine Fähigkeiten ausgedrückt und konnte am Ende alle Widerstände überwinden. Damit wächst eine gewisse Selbstmächtigkeit, die man mir heute vielleicht als Machotum auslegt. Aber ich bin kein überlegener Macho, ich weiss nur, dass man im Leben alles erreichen kann, wenn man es mit Begeisterung betreibt.

Haben Sie zum Jahresauftakt noch ein paar andere Ratschläge?

Wir müssten allen Menschen der Erde auf Augenhöhe begegnen und von ihnen lernen. Ich weiss nicht, ob der Trump einmal im Vorderen Orient war, der junge Bush jedenfalls war nie dort und hat einen Krieg angefangen, weil er die Menschen nicht kannte. Von der Dritten Welt können wir die Schicksalsergebenheit abschauen. Es nützt nichts, zu sagen: «Die Erde wird dauernd erschüttert, wir müssen das abstellen.» Es wird immer Erdbeben geben. Da können wir nix tun.

Aber gegen den Klimawandel können wir sehr wohl etwas tun.

Natürlich können wir sagen: «Die globale Erwärmung geht zu schnell.» Aber die Vorstellung, dass wir das auf zwei Grad begrenzen, ist irre! Eine absolute Hybris! Wenn Wissen schafter das tatsächlich glauben, haben sie von der Natur keine Ahnung. Wir können nur weniger CO2 ausstossen. Was dann passieren wird, wissen wir nicht. Wir haben das Ganze hundert Jahre lang angeheizt, vielleicht können wir es in ein paar hundert Jahren langsam zurückdrehen. Aber wir wissen ja nicht einmal, ob wir die richtigen Schlüsse ziehen.

Haben Sie eine bessere Idee? 

Verzicht lernen. Der Buddhismus führt weg vom Rad der Gier. Aber wir leben in einem Zeitalter der Gier, und wenn alle gierig sind, gibt es Konflikte. Wir sollten den Verzicht als lebensb ereichernd sehen.

Ist Mannsein einfacher oder anstrengender im Alter? 

Älter werden ist phantastisch, ich brauche nichts mehr zu beweisen, ich habe kein Balzgebaren mehr, alles vorbei. Ich bin völlig frei und kann meine Ideen finanzieren und umsetzen. Heute weiss ich: Erfolg und Anerkennung sind langweilig. Eine Idee in die Tat umsetzen, das ist der Schlüssel zum Glück.

Apropos Glück: In Werner Herzogs Film «Gasherbrum» sagen Sie, dass Sie bis ans Ende Ihres Lebens nur noch gehen wollen. 

Interessant, dass ich die nächste Phase damals schon im Unterbewussten geahnt habe. Ich habe in meinem Leben immer die Notwendigkeit gespürt, von einem Tun ins andere umzusteigen. Nachdem meine Zehen abgefroren waren, konnte ich im Felsklettern nie mehr erreichen, was ich schon geschafft hatte. Also bin ich durch die Wüste Gobi gegangen oder durch die Antarktis. Aber auch hier wurde es unmöglich, mich weiterzuentwickeln, ich habe angefangen, Bücher zu schreiben und Museen zu eröffnen. Die grössten Erfolge habe ich immer in neuen Feldern gefunden.

Und was kommt jetzt noch?

Ich lebe am Beginn meiner siebten Lebensachse, vermutlich der letzten, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich lebe heute zeitweise in einer Höhle. So möchte ich die Zeit, die ich früher auf Expeditionen erlebt habe, in der Stille für mich allein verbringen. Da fühle ich mich aber nicht als König der Männer!