Im Skizirkus

NZZ am Sonntag, 27. Januar 2013
Fotos von Samuel Trümpy
Go-go-Tänzerinnen in der Alphütte und DJs am Pistenrand. Nirgendwo ist das Skifahren beim Skifahren so nebensächlich wie im österreichischen Ischgl. Und bereits ist auch die nächste Eskalationsstufe der Dauer-Gaudi in Planung.

Noch mehr «Wahnsinn». Das will Günther Aloys in Ischgl. Kaum hat er im Designersofa seines Nobelhotels die Beine übereinander geschlagen, fängt der Touristiker an zu erzählen und hört nicht mehr auf. «Wir brauchen eine Achterbahn vom Berg ins Tal. Wir brauchen Mountain-Glider, um wie Adler hinunterfliegen zu können.» Weiter geht’s mit einer Ski-in-Kirche. Überdachten Pisten. Schneekanonen im Dorf. Aloys redet sich von einer Vision in die nächste, als könnte er die Zukunft noch verpassen, hätte er den «Jodeldodel-Stil» nicht schon längst aus seiner Lobby verbannt und die Heimat hinter den Glasfenstern umfunktioniert in einen Skizirkus.

Ischgl, einst arme Bauerngemeinde, ins Tiroler Paznauntal gequetscht, unterhält pro Wintersaison Hunderttausende. Nicht nur mit 43 Anlagen und 238 Pistenkilometern. Auf dem Berg singen die Massen mit den Scorpions oder hüpfen zu DJ Antoine im Schnee herum. Im Tal leuchtet das Dorf wie ein Mini-Las-Vegas. Urige Klötzchen mit 12 000 Gästebetten. Strip-Laden an Sterne-Hotel, Burger-King an Sportboutique. Per Förderband geht’s durch den Dorf-Tunnel zur Bahn oder von Gaudi zu Gaudi. Geworben wird mit dem Slogan «Relax. If you can». Denn es gibt Aprés-Ski ab halb zwei, es gibt Go-go-Girls, die mit dem Hintern wackeln, es gibt Judihui ohne Ende, sieben Tage die Woche, einhundertsechzig Tage pro Wintersaison.

Trotzdem: «Man muss den Wahnsinn wieder neu erzeugen», redet Aloys weiter und schaut prophetisch ins Kaminfeuer, wie immer wenn da die nächste Vision sichtbar zu werden scheint: «Ischgl goes Hollywood. Stellen Sie sich vor: Eine Riesenleinwand vor gigantischer Schneekulisse, 500 Meter roter Teppich, Glämmer kommt nach Ischgl.» Und mehr «Glämmer» bringt noch mehr Presse, Erlebnisindustrie und klingelingeling. Also hat Aloys bereits einen Low-Budget-Thriller gedreht, eineinhalb Stunden, vierzig Worte, «da geht’s nur um Augen, um Spannung. Ein Mädel wird durch die Alpen gejagt, aufs Brutalste, hammerhart.»

Hammerhart ist dieser Nachmittag auch für die Schweizer Reto und Raffi. Obwohl der Schnee in der Sonne glitzert, die Show längst begonnen hat auf der «Paznauner Taja», dem Tiroler Pistentreff. Aber diese Mirabellen-Schnäpse gestern, diese «Huere-Russinnen» überall, «da muss man zehnmal auf Russland reisen, bevor was geht», sagt Reto, das erste Bier trotz Schädelbrummen in der Hand. «Am härtesten aber sind die Wurst-Partys. Also zu viele Schwänze», sagt Raffi und deutet mit einer Kinnbewegung zu den Männern, die wie Clowns um Red-Bull-Tische und Frauen in Eisbären-Kostümen herumhampeln, sich mit Jägermeister zuprosten und zum Refrain johlen: «Lass uns schmutzig Liebe treiben, Körper aneinander reiben.»

Deutsche sind in Ischgl am stärksten vertreten, dann Belgier, dann Schweizer. Letzte Saison haben sie um 13,4 Prozent zugelegt, während den Skiorten daheim die Gäste ausgehen. Ischgl hingegen, rund drei Autostunden von Zürich entfernt, hat nichts zu jammern. Nicht einmal jetzt, im Januarloch: 80 Prozent Auslastung. Ischgl ist billiger. Und lustiger. So sehen das zumindest die Kieswerk-Arbeiter mit den identisch geschorenen Köpfen. «Wo kann man sonst geil festen?», fragt Reto und nimmt den nächsten Schluck. «In Davos vielleicht», findet Raffi, «aber das ist teuer wie die Sau.» Ischgl also. Das Bett ist ab 40 Euro zu haben, im nahen Paznaun ab 25. Das Skigebiet sei ausserdem «1A». «Obwohl, normale Männer sagen: Ischgl, geil, Party, Frauen und dann kommt erst das Boarden. Oder Reto?» Der nickt, obwohl er gar nicht mehr richtig zuhört. «Achtung, die zwei Bayerinnen auf halb sechs!»

«Wir brauchen eine
Achterbahn vom Berg
ins Tal, wir brauchen
Mountain-Glider, um
wie Adler zu fliegen.»

In den Sechzigern liess Günther Aloys’ Vater Erwin die ersten Seilbahnpfeiler in den Boden rammen. Man baute weiter, machte mit den Bündnern auf der anderen Seite des Berges gemeinsame Sache. Sohn Günther aber erkannte, dass gigantische Lift-Verbünde allein aus mausarmen Bauern keine reichen Hoteliers machen. Er redete so lange, bis Elton John auf 2300 Meter Klavier spielte, Tausende «Ahh, toll» riefen und die Zeitungen Seiten vollschrieben.

Die Monsterevents auf dem Berg wurden Tradition und als Überlebensstrategie von anderen Skiorten kopiert. Aloys eröffnete den ersten Strip-Laden, das erste Designer-Hotel, stellte Tänzerinnen auf Bartresen, holte von Paris Hilton über Tina Turner bis zu Bill Clinton ins Paznauntal. Und Ischgl stillte sie immer professioneller, die Gier des Freizeitmenschen, der Pisten will und Party und Sauna und Spass und Zen und Spektakel, am besten alles zusammen und von allem immer mehr. Inzwischen ist die Silvretta-Seilbahn AG die umsatzstärkste Österreichs und Ischgl unter den Top 5 der europäischen Wintersportorte. Die Massen verteilen sich wie Ameisen zwischen surrenden Bahnen, von November bis Mai, das machen 1100 Schneekanonen klar. Und mittendrin: eine Ski-Klinik mit dem höchstgelegenen Heli-Landeplatz Europas.

Hier will sich jetzt Josef auf sein Schneemobil schwingen. Eben hat der Bär von Mann einen jaulenden Skifahrer in dem hässlichen Betonbunker abgeladen. «Schulterbruch», sagt er, ohne mit der Wimper zu zucken, nichts Besonderes. Schliesslich arbeitet der ehemalige Landwirt schon seit fast 25 Jahren hinter den Zirkuskulissen, kurvt als Pistenretter herum und sammelt in den Hängen Leute ein, von morgens um acht bis abends um sechs. Lange reden kann er jetzt nicht, «Stosszeit», sagt er und hebt entschuldigend die Hände. Vor allem am Mittag und natürlich gegen Abend verlieren die Touristen die Kontrolle über Bretter und Sinne, stürzen von selbst, fahren wie Autoscooter auf dem Jahrmarkt ineinander hinein, rammen Seilbahnpfeiler oder Bäume. Elf Pistenretter sind immer im Einsatz, fast doppelt so viele wie auf Schweizer Seite der Silvretta-Arena. Im Schnitt werden hier rund siebzig Demolierte täglich abgeladen.

Pisten statt Naturwunder

Disneylandisierung der Bergwelt? Ausverkauf der Alpen? Günther Aloys verrührt in seiner Hotellobby die Hände, so dass die Russinnen in der nächsten Sofaecke kurz von ihren iPads aufschrecken: «Ich bin in einer Hütte aufgewachsen, ich liebe den Berg, aber ich weiss gar nicht, was alle haben.» Mit alle meint er die Naturschützer, die jetzt noch angeekelter nach Ischgl blicken, weil nach jahrzehntelangem Kampf auch der Piz Val Gronda dem Zirkus zum Opfer fällt. Ein Berg, der bis jetzt noch unberührt in die Stille ragte, Daheim von Bartgeiern oder Alpenschneehühnern, unter der Schneedecke ein rares Pflanzenwunder. Für zusätzliche Pistenkilometer im Werbeprospekt, auch wenn es nur zwei sind, fürs Erste zumindest. «So was von lächerlich ist das!», ruft Aloys. «Kein Mensch weiss, was ein Steinhuhn überhaupt ist und wie des ausschaut.» Und überhaupt: «Nostalgie ist ja ein witziger Gedanke, Evolution hingegen eine vorwärtsdrängende Energie. Entweder du fliesst mit, oder sie spült dich weg, tschüss mein Freund.»

Reto und Raffi stehen da, wo ab vier die nächste Nummer geboten wird, wie immer wenn sich bis zu 22 000 Skitouristen vom Berg in die Dorfstrasse verschieben: Viel zu viele Skifahrer, auf einem viel zu engen Fetzen Piste. Pro Minute purzeln vier Stück den Hang hinunter. Weiter im Programm. Alles auf den Beinen, die Wangen glühen, alle wollen etwas erleben, die meisten treibt nur eine Frage um: Wohin? «Fire & Ice», «Nikis Stadel» oder «Champagner-Hütte»? Ausserdem im Angebot: das «Schatzi», wo halbnackte Osteuropäerinnen auf dem Tresen tanzen. Und das «Trofana», wo andere dahinterstehen und auf Kundschaft warten. Gaudi für alle Portemonnaies und Bedürfnisse.

Bald schon kippen Reto und Raffi im «Kuhstall» Flügerl-Shots, Oberschenkel an Oberschenkel mit den Bayerinnen von der «Taja». Es läuft gut, Reto zeigt der Dunklen ein Handyfoto mit Baby und Dildo, die Dunkle zeigt Reto ein Handyfoto von sich im Dirndl. Drinnen trampeln die Menschen in Skischuhen wie Elefanten herum und brüllen zur Musik von DJ Jägermeister Alex: «Joanna du geile Sau.»

Diese Show läuft natürlich immer wieder aus dem Ruder. Darum stockt die lokale Polizei während der Wintermonate von 12 auf 18 Leute auf, wird aber trotzdem nicht allein fertig mit dem Partyvolk. Also patrouilliert ein Sicherheitsdienst draussen auf den Strassen. Die sollen all die Besoffenen wegzaubern, die Müll verteilen, an herausgeputzte Wände pissen oder vor Hotels kotzen, in denen bald schon diejenigen unter Pelzdecken liegen, die nicht feiern wollen, als hätten sie nur in Ischgl ein Leben.

Derweil kümmert sich die Polizei um die grössten Probleme hinter den Zirkuskulissen: Skiunfälle, Skidiebstähle, Ruhestörungen, Sachbeschädigungen, Unfälle, Drogen, Schlägereien, Prostitution – die Liste des Polizeikommandanten Gert Pfeifer ist lang. Ebenso jene der Massnahmen, mit denen er die Auswüchse einzudämmen versucht. Er kämpft für Türsteher, zeitlich begrenztes Après-Ski oder Einlassverbot für alle, die ab 20 Uhr in Skikleidern in die Lokale wollen. Angeblich Seite an Seite mit Einheimischen, die langsam genug haben von dem Remmidemmi, dem Dreck, dem Lärm. Wer Bustouristen nur zum Feiern herankarren will, muss unwirtschaftlich hohe Gebühren zahlen. Ischgl will weniger Ballermann oder Ibiza sein, dafür mehr Lifestyle-Metropole der Alpen.

Noch mehr Zirkus?

«Klar», sagt Günther Aloys und lehnt sich in seinem Sofa zurück, «man muss sanft eingreifen, damit die Menschen nicht ganz ausrasten.» Im Gegensatz zu anderen scheut er nicht, das Dilemma auf den Punkt zu bringen: «Wasch mich, aber mach mich nicht nass, das funktioniert halt nicht. Man kann nicht Leute abfüllen und dann sagen, die sollen alle ins Kloster.» Es brauche die Massen ja auch, um Qualität zu garantieren, Lifte zu bauen, Stars auf den Berg zu holen. Die Konkurrenz macht längst dasselbe. Darum will Aloys Ischgl wieder neu erfinden, die Sommerpause zwischen den Shows erschliessen, wenn das Dorf eine Baustelle ist und auf den Almwiesen wochenlang Müll eingesammelt wird. «Nur sind die Ischgler noch nicht bereit, diesen Wahnsinn zu erzeugen.» Aloys nimmt’s gelassen. «Die Zukunft tut weh, am Anfang will sie selten einer.»

Er gibt ohnehin nie auf, der Mann der jetzt schon wieder mit den Händen eines seiner Lieblingsprojekte in die Luft modelliert: eine Treppe auf den Berg hinauf, 6666 Stiegen, «aber nicht so ein spiessiges kleines Ding, das ausschaut wie ein Mäuse-Schwanz, ich brauch so den Effekt der Chinesischen Mauer.» Zu bremsen vermag diese Euphorie jetzt nur noch die Tatsache, dass Aloys nicht mehr in den Vorstand des Tourismusverbands gewählt wurde nach dem Motto «Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan». Vielleicht, weil seine Ideen sogar für Ischgl zu gross geworden sind. Vielleicht, weil im Keller seines Nobelhotels Freier ein und aus gingen. Vielleicht, weil er manchmal auch einfach etwas «too much» war mit seiner «vorwärtsdrängenden Energie».

«Wenn Hunderte feiern, fliessen der Alkohol und auch das Geld. «Evolution ist eine vorwärtsdrängende Energie. Entweder du fliesst mit, oder sie spült dich weg.»

Reto und Raffi balancieren in der «Trofana Alm» auf den Tischen. Die Bayerinnen? Reto zuckt mit den Schultern. Nachschub wankt ohnehin schon daneben, schwitzend, kreischend, Mädels in T-Shirts mit der Aufschrift «Ich habe Phantasien wie ein Mann». «Irgendein Verein», schreit Raffi. Egal. Der Zirkus ist ausser Rand und Band. Die Toten Hosen singen «An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit». Alles ist verrutscht, feucht, im Alkohol versenkt. Alles liegt sich in den Armen, jung, alt, dick, dünn, arm, reich. Sie lachen, sie winken, sie brüllen, vereint im Rauschgefühl, endlich wieder etwas zu spüren und einen Sinn zu sehen in dieser gottverdammten Welt.