Gabrielle Frey gilt als Unruhestifterin, als eine, die sich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen. Und: als Sündengeiss. Denn die Umweltfachfrau und ihre Mitstreiterinnen von der IG Biodiversität Feldis sollen schuld daran sein, dass die Feldwege des Bündner Bergdorfs immer noch nicht saniert, verbreitert und betoniert sind. Dass Bauern nach wie vor auf Wegen herumschaukeln, die zu schmal sind für ihre Maschinen und abenteuerlicher als Offroader-Teststrecken.

Gabrielle Frey, Natur- und Umweltfachfrau.
Feldis, Gemeinde Domleschg, 1500 Meter über Meer, gilt als Hotspot für etwas, das der Welt abhandenkommt: Biodiversität. Überall flirrt, krabbelt und zirpt es. Unter dem Dorf erstrecken sich Trockenwiesen mit Berganemonen, Wiesensalbei oder Margeriten. Und noch weiter unten, in einem kaum erschlossenen Paradies namens Tit, da sollen diese Frauenschuhe noch aus dem Gehölz lugen – sofern sie nicht zubetoniert werden, was zumindest die gestrichelte Linie auf einem Strassenbauplan befürchten lässt.
Wer jetzt denkt, in dieser Geschichte gehe es nur um Blumen, liegt falsch. Sie führt von diesen Wiesen in einen bürokratischen Dschungel bis nach Bundesbern. Weil in Feldis Fragen aufgeworfen werden, die weit über den Kanton Graubünden hinausgehen: Was ist wichtiger, landwirtschaftliche Infrastrukturen oder artenreiche Landschaften? Wie geht beides am besten Hand in Hand? Braucht es Betonspuren, um Kühe auf Alpen zu chauffieren? Oder werden damit gar Steuergelder verschleudert? Und kann man mit landwirtschaftlichen Subventionen eigentlich auch Skitraversen finanzieren?


Im Weg: Werden Strassen ausgebaut, verschwinden Felsen wie dieser. Und mit ihnen ganze Lebensräume.

Feldis: Niedliche Fassaden, vergiftete Stimmung.
Elf Ämter haben sich mit Feldis beschäftigt und über 100 Seiten an Beurteilungen und Stellungnahmen verfasst. Es geht um Millionen von Franken und gefühlt ebenso viele Interessen. Jeder redet hinter dem Rücken des anderen, es gibt nur Schwarz oder Weiss, alle haben recht und zugleich unrecht. Und die Stimmung hinter den niedlichen Fassaden ist so vergiftet, dass die einen den anderen vorwerfen, Frauenschuhe anzupflanzen, und die anderen den einen, sie mit Pistenbullys zu verfolgen.
Wer hätte das gedacht, als die Gemeinde vor zehn Jahren für eine sogenannte Gesamtmelioration stimmte? Klang das Vorhaben doch vernünftig: Weil die Parzellen im Laufe der Generationen unter 275 Grundeigentümern zerstückelt worden sind, sollen sie zusammengelegt und neu verteilt werden. Fertig kreuz und quer herumfahren, Schluss mit da einen Flecken mähen und dort den nächsten. Jahrelang wurde ein Projekt ausgearbeitet, um das nur noch gestritten wird. Nicht um Land, nein, sondern um die mitgeplanten Strassen, die es für eine bessere Bewirtschaftung auch braucht: 22,8 Kilometer des Wegnetzes sollten ursprünglich saniert werden, 15,4 mit Beton befestigt und 3,6 Kilometer neu gebaut.


Um solche Hänge in Zukunft bewirtschaften zu können, müssen die Wege besser werden. Fragt sich bloss wie viel besser?
Ist das alles nötig? So viele Wege verbreitern und betonieren? Für rund 13,8 Millionen Franken, die zu 85 Prozent Kanton und Bund zahlen sollen? Nein, nein und nochmals nein, finden Grundeigentümer, die nebst Gabrielle Frey Einsprachen gemacht haben. «Müsste man für diese Artenvielfalt bezahlen, käme niemand auf die Idee, sie kaputtzumachen», sagt die 61-Jährige, die seit drei Jahren fest in Feldis wohnt und aus dem Aargau stammt.
Landumlegungen seien immer mit intensiverer Landwirtschaft verbunden, sagt sie. Und: Je breiter die Strassen und betonierter die Wege, desto mehr Verkehr, desto mehr Gülle, desto grössere Flächen werden gleichzeitig gemäht, desto mehr Maschinen wie Siloballenpressen, die das Gras wie ein Staubsauger aufsammeln und mit ihm Samen, Insekten und Raupen, «alles futsch».
«Diese Landschaft ist nicht für solche Maschinen gemacht, ergo passt man sie den Maschinen an, das ist doch ein Irrsinn», sagt Frey, die bisweilen von Hand mäht, um raren Gewächsen Licht zum Leben zu verschaffen. Sie hat auch schon der Polizei telefoniert, als so eines ausgerupft wurde. Nach dem Motto «Retten, was zu retten ist», zumal allein hierzulande ein Drittel aller Arten und die Hälfte der Lebensraumtypen gefährdet sind. Analog zur Klimakrise gibt es die Biodiversitätskrise, und im Grossen droht ein Kampf wie
in Feldis im Kleinen.
Die Meliorationsbefürworter sagen: «Nun wollen uns die Unterländer auch noch Strassen vorschreiben. Sollen sie doch dort auf Kies herumfahren mit ihren SUV.»
Die Meliorationsgegner sagen: «Hier eine Zufahrt und dort eine Pistenerschliessung: Die Planer haben sich von Interessen leiten lassen und das Fuder völlig überladen.»
Der Kantonsvertreter sagt: «Wir bauen nach Normen. Und zwar das, was sinnvoll, sicher und dauerhaft ist.»
Die Umweltingenieurin sagt: «Diese Normen sind das eine Gift, die Geldtöpfe von Kanton und Bund das andere.»
Und der Bundesvertreter sagt: «Ob Strukturverbesserungen der Biodiversität schaden, wird gerade im Auftrag des Bundesrats überprüft.»
Es ist ein Hickhack sondergleichen. Und Stefan Battaglia hat es satt. Der Landwirt und Vizepräsident der Meliorationskommission rumpelt in seinem Pick-up einen Kiesweg hinab, der mehr Bachbett ist als Strasse, und in diesem Zustand wird er wohl noch länger bleiben. Die amtlichen Juristen beschäftigen sich seit Jahren mit den Einsprachen, und das Genehmigungsverfahren läuft immer noch.

Stefan Battaglia, Landwirt und Vizepräsident der Meliorationskomission.
«Dass diese Umweltschützer aus Prinzip gegen Beton sind und das ganze Projekt lahmlegen, macht mich sauer», sagt Battaglia, 35, der durchdrungen ist von dem Frust, als Naturverschandler hingestellt zu werden von allen, die von der Landwirtschaft so weit entfernt sind wie Zürich von Feldis. Er teilt die Welt in wir und ihr ein, wobei wir die Bauern sind und die Bergler und ihr die Unterländer und Verhinderer. Von den 275 Grundeigentümern wohnten noch etwa 30 in Feldis, der Rest seien Abgewanderte, Zweitheimische und eben: Unterländer. «Und nur weil die Natur dort verschandelt ist, sollen wir leben wie vor hundert Jahren?»
Ohne Mähen, keine Artenvielfalt
Jetzt fährt er Richtung Tit hinab, in der Hoffnung, ein Verständnis dafür zu schaffen, warum er diese Melioration braucht: Sein Transporter ist mit 2,5 Metern fast so breit wie der Weg, also muss er sich überlegen, ob er die Doppelräder abmontiert, obschon der Hang mörderisch steil ist und das Kies rutschig.
Im Gelände braucht er sie dann wieder, und beim Hochfahren geht alles von vorn los. «Wir sind nicht diejenigen, die Landschaften verschandeln, sondern diejenigen, die sie erhalten», sagt Battaglia. Hätten seine Vorfahren diese Wiesen nicht gemäht, wäre Feldis nicht das Artenparadies, das es heute ist, dann wäre alles verbuscht und zugewachsen. Das ist die grosse Crux, wie viel Bewirtschaftung ist genug und wie viel zu viel. Sicher ist: Wo die Strassen zu gefährlich werden, will Battaglia Flächen aufgeben. «Und wenn ich sie nicht bewirtschafte, dann macht es gar niemand.»

Wo Gemeinden nichts für den Unterhalt tun, können Wege zu einem Sicherheitsrisiko werden.
In den fünfziger Jahren hatte Feldis sechzig Bauern, heute sind es nur noch zwei. Landesweit bewirtschaften immer weniger Bauern immer grössere Flächen, dafür brauchen sie immer grössere Maschinen und immer breitere Strassen. Das kostet: Seit 2003 hat allein der Bund 1,7 Milliarden Franken für Strukturverbesserungen ausgegeben, die auch in das Sanieren von Drainagen fliessen oder den Ausbau von Ställen.
Die Gelder werden nach Bedarf unter den Kantonen verteilt, der wiederum von Grösse, Topografie oder bestehenden Infrastrukturen abhängt. Graubünden hat in den letzten zwanzig Jahren mit rund 346 Millionen am meisten bezogen und die Hälfte davon in Wege verbaut. Kein anderer Kanton plant nach Angaben des Bundes langfristiger, was wann melioriert werden solle, und geht aktiver vor. Normalerweise läuft es umgekehrt, bottom up, wer etwas braucht, meldet sich beim Kanton und der wiederum beim Bund.
Jeder in Strukturverbesserungen investierte Franken führt gemäss einer Studie zu einer Wertschöpfung von 2 Franken 15. Wenn also Feldis eine Gesamtmelioration plant, dann profitieren von den Millionen nicht nur Bauern oder Forstarbeiter. Es profitieren auch Besitzer von Höfen, die sich mit Zufahrt teurer verkaufen. Und es profitiert eine ganze Kaskade von Bike-Läden über Ökobüros bis zu Bauunternehmen.
Gabrielle Frey geht jetzt mit ihrer Gruppe an Felsen vorbei, die dem Ausbau des Feldwegs zum Opfer fallen würden. Obschon diese mit dem sandigen Kies und den Magerwiesen einen Lebensraum bilden, den manche Arten als «Ensemble» brauchen.


Manche Insekten brauchen Kies und Fels und Wiese zum überleben.
Gesprächen wie diesen schliesst sich bald Esther Scherz an, Bäuerin in Wädenswil. Zusammen mit ihrem Ehemann, Marco Möhr, Churer Rechtsanwalt, der seit 36 Jahren in Feldis wohnt. Sie ist Mitgründerin der IG Biodiversität Feldis. Und er hat als Mitglied der Meliorationskommission vier Jahre lang zu vermitteln versucht zwischen Kommission, Planern und Kritikern, «vergeblich», sagt Möhr und hebt entschuldigend die Hände. Obschon er abgewählt wurde, beschäftigt ihn das Projekt immer noch, insbesondere rechtlich. Während die anderen nach Paradieslilien Ausschau halten, erklärt er die Grundsätze, die für Erschliessungen erfüllt sein müssen. Unter anderem: den landwirtschaftlichen Nutzen, den sie primär erfüllen müssen. «Ob sich das ganze Projekt im Rahmen des Zulässigen bewegt, muss jetzt das zuständige Bündner Departement entscheiden», sagt Möhr. «Ich bezweifle es.»
Zulässig oder unzulässig? Recht oder Unrecht? Wie es so weit kommen konnte, ist schwer zu rekonstruieren. Grob ausmachen lassen sich zwei Phasen, in der ersten wurde der Konflikt angelegt, in der zweiten kam das böse Erwachen: Ab 2013 brüteten die Gemeinde, Ingenieure und Kantonsberater das Projekt aus, das nicht nur bei den Behörden durchkommen muss, sondern auch bei den Grundeigentümern. Nur wurden die zu wenig ins Boot geholt, zumindest darin sind sich alle einig. Aus Intransparenz wurde Skepsis, aus Skepsis Misstrauen und aus Misstrauen ein Stapel Einsprachen.
2019, als das Projekt öffentlich auflag, sorgten insbesondere zwei Vorhaben für Entsetzen: Weg 20 sollte ausgebaut werden, um die Alp da Veulden besser zu erschliessen. Mit einem sogenannten Betonspurweg, einem Hybrid zwischen befestigter Strasse und Feldweg, zwei Betonspuren, ein Grünstreifen in der Mitte, 1530 Meter lang. Unter anderem, um die Kühe besser auf die Alp hochzufahren. Obschon: Die Alp hat von der anderen Seite her schon eine gute Strasse.

Streitfrage: Muss hier ein Weg gebaut werden, um den Hang zu mähen und der Verbuschung entgegenzuwirken?
«Geht’s noch?», fragten sich manche, als sie in der Auflage auch noch von Weg 16 lasen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Noch so ein Betonspurweg in einen unberührten und ökologisch wertvollen Hang, in dem sich auch noch Quellschutzzonen befinden? Obschon sich nicht einmal alle Bauern einig sind, ob es das braucht?
Gabrielle Frey hat sich schon 2021 im Lokalblatt «Pöschtli» dazu geäussert, womit der Mist halb geführt war: «Im Zuge der Melioration soll eine Landwirtschaftsstrasse gebaut werden, die im Winter als Piste dient.» Und in der Projektbeschreibung ist auch von einer Schlittelbahn die Rede. Nun streiten sich die Geister, worum es hier vor allem geht. Und so wurde auch jeder noch so nötige Betonspurweg zu einem umkämpften Symbol für gut oder böse.
Der Alpweg für rund eine Million ist inzwischen gestrichen, Kanton und Bund hätten ihn nicht bezahlt. «Und auch bei Weg 16 sind wir massiv zurückgekrebst», sagt Stefan Battaglia, der vor dem umstrittenen Hang steht und zeigt, wo nur noch ein «Grünweg» geplant ist. Ob es den wirklich braucht, kann er nicht zu 100 Prozent bejahen. Sicher könnte man das Heu besser abführen, das wäre ein Vorteil. Und warum soll man auf einen Vorteil verzichten? «Klar haben wir versucht, im Rahmen der Vorschriften das Optimale rauszuholen», sagt Battaglia, wer würde das nicht tun? «Es ist ja alles von Kanton und Bund geprüft worden, das ist das Verrückte.»
So schieben sich in dieser Geschichte auch alle gegenseitig die Verantwortung zu. Die Bauherrschaft den Behörden, die Behörden der Gemeinde, entscheiden muss letztlich die Bündner Regierung, die quasi die Baubewilligung erteilt. Eines ist gewiss: Es wird nicht willkürlich drauflosgeklotzt. Gesamtmeliorationen sind hyperkomplex und durchnormiert.
Zuerst wird ein generelles Projekt erarbeitet. Das wird kantonal geprüft und von Dienststellen sowie Umweltorganisationen beurteilt. Dann geht das Rösslispiel auf Bundesebene los, und die betroffenen Ämter liefern Einschätzungen ab. Nach zig Runden und Jahren wird das Auflageprojekt öffentlich. Ab dann kann es – wie im Fall von Feldis – Einsprachen hageln.
Dabei involvieren Planer von Anfang an ein Ökobüro, das alles nach einem Punktesystem beurteilt. Für das Zerstören einer Trockenmauer zum Beispiel gibt es Minuspunkte, die mit gesetzlich geforderten Ersatzmassnahmen anderswo ins Plus führen müssen. Dennoch wird bisweilen moniert, ökologische Anliegen kämen zu kurz: «Unsinn», sagt Moreno Bonotto, der beim Bündner Amt für Landwirtschaft und Geoinformation die Abteilung Strukturverbesserungen leitet. «Wir wollen zwar primär die landwirtschaftliche Nutzfläche erhalten, versuchen aber, alle Interessen gleich zu gewichten.»
Bündner Spezialität
Wie im Fall Feldis abgewägt wurde, darf Bonotto nicht sagen: kein Kommentar, solange das Genehmigungsverfahren nicht über die Bühne ist. Das heisst es bei den involvierten Behörden, für die Feldis ebenso ein Reizwort ist wie die Melioration im Dorf. Wissen möchte man etwa, was in wie steilem Gelände vertretbar ist. Ob man bei Wegen mit Steigungen von unter 12 Prozent nicht besser auf Beton verzichtet, was unter anderem das Bundesamt für Umwelt (Bafu) fordert.
So absurd es klingen mag: Um solche Sachen wird gefeilscht, als wäre man auf einem Basar im Fernen Osten. Es geht um Normen beziehungsweise den Spielraum, den sie offenlassen. Von Fahrbahnbreiten über Kurvenradien bis zu Materialien gibt der Bund alles in Richtlinien vor. Und in deren Rahmen bauen Bündner besonders gern Betonspurwege, die sie zu einer Art Spezialität gemacht haben wie die Capuns auf dem Teller. Spurwege sind zwar teuer, aber man kann sie steiler bauen und damit Kurven und Landverbrauch sparen. Zum Einsatz kommen sie ab einer Steigung von 8 bis 12 Prozent.
Die Grauzone liegt somit bei 4 Prozent. Oder man könnte auch sagen die Kampfzone: Nach den Einsprachen wurde sowohl das Wegnetz als auch der Anteil der Betonspuren auf 65 Prozent reduziert. Was den einen immer noch zu viel ist, das ist den anderen zu wenig. Allen voran Ingenieur Gieri Luzi, 75, Planer der alten Schule. Er ist in Scheid aufgewachsen, im Nachbardorf von Feldis, und hat das Projekt entscheidend geprägt. Im ganzen Kanton tragen Gesamtmeliorationen seine Handschrift, Spurweg-Anteil bis zu 85 Prozent. «Für die Gemeinden sind sie schlicht das Beste», sagt Luzi, «sie müssen jahrzehntelang keinen Franken Unterhalt zahlen.»
So wird er entweder als Heilsbringer gesehen oder als Ursprung allen Übels: Gieri Luzi war es, der die heute so umstrittenen Spurwege 1990 zum ersten Mal im Bündnerland verbaut hat. Damals seien sie als Errungenschaft gesehen worden, als Alternative zu asphaltierten Wegen, auf denen nicht einmal das Vieh gern läuft, erzählt er mit Stolz in der Stimme.
Und man kann sie ja auch als Kompromiss zwischen Technik und Natur sehen: Während sich Kleinstlebewesen auf aufgeheiztem Beton die Füsse verbrennen, haben sie auf dem Grünstreifen eine rettende Insel. Auch im Bau seien sie ökologischer, sagt Luzi, ja Beton möge in der Herstellung sehr CO2-intensiv sein, dafür müsse um Welten weniger Material verbaut werden. «So etwas wie in Feldis habe ich noch nie erlebt.»
Die Zeiten haben sich geändert, die Lebensräume schrumpfen und mit ihnen die Artenvielfalt. Nach der Klimakrise ist auch die Biodiversitätskrise in der Mitte der Gesellschaft angekommen und mit ihr die Erkenntnis, dass kaum eines der in der Bundesstrategie Biodiversität formulierten Ziele erreicht ist. Und vielleicht hat der wachsende Widerstand auch damit zu tun, dass die sogenannten Strukturverbesserungen auch Verschlechterungen mit sich bringen können.


Ein Paradies namens Tit: Wo sich Pflanzen besonders wohlfühlen.
In Ramosch, Unterengadin, sagte der Gemeindepräsident nach einer Gesamtmelioration, dass es landwirtschaftlich weder so breite Strassen noch Hartbeläge brauche. Im Schanfigg kämpft die IG Naturweg auch deshalb für eine naturverträglichere Melioration, weil Wanderer Betonspuren meiden. Und hätte im Domleschg die Umweltingenieurin Nina von Albertini nicht für die Sanierung der Naturstrasse nach Dusch gekämpft, wäre die heute 3,85 Meter breit, asphaltiert und vermutlich nicht mehr im Bundesinventar der historischen Verkehrswege.
«Der normierte Ausbau ist oft fragwürdig», sagt sie, Ortsgegebenheiten und Schutzziele müssten besser berücksichtigt werden. Die Sanierung der Naturstrasse war zwar billiger als der geplante Ausbau, dafür muss die Gemeinde mit dem Unterhalt auch für den Erhalt von historischen und ökologischen Werten zahlen.
Normen des letzten Jahrhunderts
Alle verweisen auf Systemfehler bei der obersten Subventionsbehörde, dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Während der Strassenbau mit Millionen unterstützt wird, müssen Gemeinden den Unterhalt aus eigener Kasse zahlen. Verleitet das nicht dazu, die Wege etwas gar fleissig zu befestigen?
«Nein», sagt Thomas Hersche, BLW-Fachbereichsleiter Meliorationen. «Auch wir schaffen einen Anreiz, um Strassen zu unterhalten.» Bei Kieswegen zum Beispiel kann man alle acht Jahre einen kleinen Beitrag beziehen und kantonal ergänzen. In jedem Fall sei klar festgelegt, wann es einen Hartbelag brauche, sagt Hersche. «Unsere Richtlinien basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wo kein Beton nötig ist, zahlen wir diesen auch nicht.»
Und damit wären wir wieder bei diesen Normen, die vielen so ein Dorn im Auge sind. Jahrzehntelang auf Basis derselben Richtlinien bauen, ob im intensiv bewirtschafteten Mittelland oder in ökologisch wertvollen Berggebieten, ist das noch zeitgemäss? «Unsere Richtlinien bilden nur Leitplanken», sagt Hersche. «Gerade wird mit der Branche eine neue Arbeitshilfe ausgearbeitet.» Die sogenannt aktuelle stammt offenbar noch aus den neunziger Jahren. Nächstes Jahr soll die neue kommen, frühestens.
Frühestens nächstes Jahr sind auch die Resultate der Untersuchung zu erwarten, die von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) angeregt wurde. So etwas wie ein einheitliches System zur Bewertung ökologischer Ersatzmassnahmen, das gibt es noch gar nicht. Und auch frühstens nächstes Jahr muss das Update zur zentralsten aller Fragen kommen: Wie stark schädigen Strukturverbesserungen die Artenvielfalt?
Sehr stark, lautet der Befund einer Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt (WSL) und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, die 162 biodiversitätsschädigende Subventionen identifizierte. Im Auftrag des Bundesrats müssen acht davon genauer untersucht werden – die Strukturverbesserungen zählen auch dazu. «Von einem Missstand zu sprechen, ist falsch», sagt Hersche und betont, dass die Ökologie für moderne Meliorationen sehr wichtig sei. «Vernachlässigt haben wir sie sicher nicht.»

Die Ikone aller Wildblumen: Der Frauenschuh.
So oder so: Projekte, Überarbeitungen, Studien – die Meliorationspraxis ist offenbar in Generalüberholung, wie ein Auto, das ohne Service nicht auf die Strasse sollte. Zumindest aus ökologischer Perspektive.
Wie es in Feldis weitergeht, wird sich im September zeigen, wenn der Departementsentscheid erwartet wird. Stefan Battaglia befürchtet das Schlimmste. Und auch Gabrielle Frey mag jetzt nicht daran denken. Nach einer Wanderstunde ist sie im Tit unten angekommen, wo sich die Frauenschuhe im Wind wiegen und dabei aussehen wie lachende Comicfiguren. Alle Pflanzenfans sind nicht mitgekommen, um das Spektakel zu bestaunen. So eine Wildnis hat halt auch Nachteile: Sie ist voller Zecken.