«Ohne Kälte, keine Magie», sagt Erling Kagge

Niemand schreibt so erfolgreiche Bücher über die Stille oder das Gehen in der Kälte. Ein Gespräch mit dem Winterabenteurer Erling Kagge über die beste Strategie, um warm zu bleiben, und die Weisheit, es sich im Leben nicht zu gemütlich einzurichten.
«Es geht auch darum, Schmerzen zu akzeptieren»

NZZ am Sonntag: Herr Kagge, Sie haben als erster Mensch die drei Pole zu Fuss erreicht, den Nordpol, den Südpol und den Gipfel des Everest. Wie schliessen Sie Frieden mit der Kälte?

Erling Kagge: Gar nicht. Ich finde in der Kälte Frieden.

Bei minus 50 Grad?

Himmel und Hölle liegen bei eisigen Temperaturen sehr nah beieinander, dazwischen gibt es nichts. Du bist halb am Verhungern, aber das Essen schmeckt besser als in jedem Gourmetrestaurant. Du frierst den ganzen Tag, aber wenn du dich abends im Schlafsack aufwärmst, ist es wunderschön. Für mich ist das eines der schönsten Gefühle der Welt. Ohne Kälte hätte der Nordpol keine Magie.

Magie? Was finden Sie so magisch daran?

Zu hören, wie der Schnee unter den eigenen Schritten knirscht. Und das Eis, wie es sich bewegt, ächzt und kracht. Sonst ist es ganz still, es gibt keine Lichter am Himmel oder andere Ablenkungen oder Erwartungen. Am Anfang sind da noch all diese Geräusche im Kopf, man denkt über die Vergangenheit nach und über die Zukunft, nach ein paar Tagen beruhigen sie sich, und man setzt einfach einen Fuss vor den anderen in diesem wilden, weissen Nichts. Phantastisch.

Und masochistisch.

Natürlich ist es hart. Und natürlich geht es auch darum, durchzuhalten, Schmerzen zu akzeptieren. Aber Frieren ist gesund. Wer nie friert, kann keine Wärme geniessen. Und wer nie krank ist, wird nie schätzen, gesund zu sein. Wir alle haben jeden Morgen die Wahl, etwas Leichtes oder etwas Schwieriges zu tun. Ich halte Letzteres für schlauer.

Warum?

Weil es uns ermöglicht, neue Erfahrungen zu machen und uns weiterzuentwickeln. Diese Fähigkeit hat uns als Spezies ja überhaupt erst zu dem gemacht, was wir heute sind. Ich friere auch nicht gern, aber ich geniesse es, in der Kälte zu sein. Der norwegische Traum handelt vom einfachen Leben und geht so: den ganzen Tag langlaufen, ein bisschen frieren, ein bisschen leiden, immer müder werden und schliesslich nach Hause gehen, um in der Wärme etwas Gutes zu essen, Kabeljau zum Beispiel oder ein Steak.

Peak, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt

Peak, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt

Crest, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt.

Crest, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt.

Der norwegische Traum? Die Schweizer jammern schon, wenn die Temperaturen einmal ein paar Tage deutlich unter null liegen.

Vielleicht klagen die Leute in der Schweiz über die Kälte, um überhaupt etwas zu klagen zu haben. Ihr seid wie wir Norweger superprivilegiert. Also ist es einfach, sich zu beklagen.

Wie kalt ist kalt?

Als ich am Nordpol abgeholt wurde, zeigte die Temperaturanzeige des Flugzeugs minus 54 Grad an. Das war vermutlich das Kälteste, das ich je erlebt habe. So genau kann ich das aber gar nicht sagen. Auf meinen Expeditionen hatte ich nie ein Thermometer dabei. Nicht nur um Gewicht zu sparen, sondern auch um weniger anfällig zu sein: Anzeigen von minus 30, 40 oder 50 Grad haben einen psychologischen Effekt. Man denkt sich alle möglichen Ausreden aus, um nicht nach draussen zu gehen. Wer sich aber überwindet, merkt, wie angenehm Kälte sein kann.

Angenehm?

Ich habe nie mehr gefroren als zu Studienzeiten in Amsterdam, wo täglich Stunden mit Einheizen des Ofens verloren gingen.

Wärme ist doch ein zivilisatorischer Fortschritt.

Klar, Amsterdam liegt nah am Wasser, es windet viel, und die Kälte durchdringt alles. Vermutlich haben Sie sich nicht richtig angezogen. Die meisten Leute haben verlernt, mit der Kälte zu leben. Die New Yorker zum Beispiel sind jeden Winter erstaunt darüber, dass es so kalt ist, wie es ist.

Wir scheitern auch am Verständnis darüber, was Kälte ist, schreibt der Kanadier Bill Streever in seinem Buch «Cold»: Treiber der Zivilisation oder ein Spiegel unseres Versagens. Gletscher formten die Landschaften in der Vergangenheit, und das Verschwinden der Kälte bestimmt die Zukunft.

Historisch hat die Kälte uns Menschen gelehrt, uns vor der Kälte zu schützen. Warm zu bleiben, Vorräte anzulegen, Essen haltbar zu machen, zu planen, erfinderisch zu werden, einander zu vertrauen und besser aufeinander aufzupassen. Und vor allem: Feuer zu machen. Es war eine zentrale Errungenschaft für die menschliche Entwicklung. Dank Feuer konnten wir uns vor wilden Tieren schützen oder Fleisch braten, das wiederum einer der entscheidenden Energielieferanten für das Wachstum des Gehirns war. Ohne die Kulturtechnik des Feuers wäre das moderne Leben undenkbar.

Macht Kälte intelligent?

Ich kann besser denken, wenn es kühl ist. Meine Gedanken werden schärfer und Ideen konkreter. Am besten ist, an einem kalten Tag spazieren zu gehen. Wer nicht frieren will, muss sich bewegen. Und das bringt auch die Gedanken und Emotionen in Gang. Wir denken ja nicht bloss mit dem Hirn, sondern auch mit dem Körper. Viele grosse Denker sind daher gerne und oft zu Fuss gegangen, Sokrates zum Beispiel oder Steve Jobs. Und das ist einfach angenehmer, wenn es kühl ist. Bei warmen Temperaturen geniesse ich lieber ein Glas Wein oder ein Buch. Aber klar, ich bin Norweger. Wenn ich arbeiten oder schreiben will, brauche ich die Kälte.

Nietzsche bezeichnete die Philosophie als das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge. Sehen Sie das auch so: Ohne Kälte, keine Philosophie?

Absolut. Obschon ich glaube, Nietzsche hat beim Schreiben über Kälte oder das Gehen immer ein bisschen übertrieben.

Inwiefern?

Er hat wohl eher Spaziergänge als Expeditionen unternommen und ist danach schnell wieder in seine Engadiner Stube zurückgekehrt.

Wie Henry David Thoreau, der in «Walden» das einsame Leben in den Wäldern predigte, obwohl seine Hütte nur eine Meile vom nächsten Städtchen entfernt war?

Vermutlich. Nietzsche war wohl ein wenig machohaft.

Ist auf den Everest zu klettern nicht das Machohafteste, was man als Mann so tun kann?

Doch. Aber es ist auch vieles mehr. Wissen Sie, was der legendäre Bergsteiger George Mallory auf die Frage antwortete, warum er immer wieder versuche, den Everest zu erklimmen?

Nein.

«Weil er da ist.» Damit wollte er uns auf seine Art daran erinnern, dass es ein paar wenige Dinge gibt, die wir tun müssen, und sehr viele, die wir tun sollten oder könnten. Auf den Everest zu steigen, gehört sicher nicht dazu. Einfach spazieren gehen oder zu Hause bleiben kann jeder, niemand muss gegen eisige Temperaturen kämpfen oder gegen beissenden Wind. Was aber zu einfach ist, verliert seinen Reiz. Ich glaube an die Idee, das Leben schwieriger zu machen. Weil es den Menschen hilft, ihr Potenzial auszuschöpfen.

Rock Valley, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt.

Rock Valley, «Peak», 2019 by Bastiaan Woudt.

Das sehen die Inuit, die im Norden ums Überleben kämpfen, vermutlich etwas anders.

Natürlich: Wäre ich in Kongo geboren, würde ich auch keine Bücher über die Stille oder das Gehen schreiben. Und natürlich ist es dekadent, 60 Tage lang freiwillig gegen die Kälte anzukämpfen und dabei immer nur ein Ziel vor Augen zu haben. Aber es ist psychologisch interessanter, als am Morgen im warmen Bett zu bleiben und im Leben immer den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Wer das tut, bleibt stehen und verpasst die Chance für ein reicheres Leben.

In diesem Corona-Winter werden sich mehr Menschen denn je ins eisige Abenteuer wagen. Welches ist die Outdoor-Kälteregel Nummer eins?

Vorbereitet sein. Sonst kann es schnell gefährlich werden. In Norwegen sagen wir: Halte die Füsse warm und den Kopf kühl. Niemand brachte es besser auf den Punkt als der Polarforscher Roald Amundsen: «Der Sieg ist jenem sicher, der alles in Ordnung hat, das nennt man Glück. Scheitern wird, wer die notwendigen Vorbereitungen nicht getroffen hat, das nennt man Pech.»

Die drei wichtigsten Tools im Rucksack?

Kompass, Trinkflasche und Leatherman-Messer. Als Kind habe ich von Schweizer Armeemessern geträumt, inzwischen scheinen mir die eher etwas für die Schublade zu sein. Immer dabei habe ich auch eine extrawarme Jacke. Für den Fall, es nicht am selben Tag nach Hause zu ­schaffen. Und eine Mütze natürlich, weil viel Wärme über den Kopf verloren geht.

Wolle oder Synthetik?

Beides. Wichtig ist, dass Thermounterwäsche locker gestrickt ist. Ist sie zu dicht, zirkuliert die Luft nicht. Luft isoliert. Kann sie nicht zirkulieren, schwitzt und friert man schneller. Ich persönlich bevorzuge Wolle.

Patagonia oder Fjällräven?

Mir geht es nicht so sehr um Marken. Die Leute denken zu viel darüber nach, was sie draussen anziehen, statt tatsächlich rauszugehen.

Sie haben das Neue Testament bis an den Südpol gezogen. Warum?

Ja, es ist 28 Gramm schwer. Ich wollte möglichst viele Gedanken pro Gramm mitnehmen. «Siddhartha» von Hermann Hesse und Oscar Wildes «Bildnis des Dorian Gray» hatte ich auch dabei. Jeden Abend habe ich eine halbe Stunde gelesen. Ohne Kontakt zur Aussenwelt braucht man einen gewissen Input. An Büchern hatte ich 250 Gramm mitgenommen, insgesamt waren 120 Kilo auf meinem Schlitten.

Ist die arktische Kälte eigentlich anders als die antarktische?

Die Antarktis ist ein Kontinent, der von Meer umgeben ist und aus einer Eiswüste besteht. Man ist in höheren Lagen unterwegs, der Südpol kann bis 2800 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Darum ist es kälter. In der Arktis geht man über driftendes Eis. Es entsteht mehr Feuchtigkeit, was einen die Kälte eher spüren lässt.

Wo ist es magischer? Ganz oben oder ganz unten?

Unten. In der Antarktis hat das Eis einen tieferen und angenehmeren Klang. Zudem war ich solo unterwegs. Da waren also noch weniger Geräusche, die einen von sich selbst ablenken. Im Lärm vergisst man sich, in der Stille beginnt man auf sich zu hören. Die Welt verschwindet, je weiter man geht. Der Kopf wird leer. Was zählt, ist der Moment. Eine schöne Erfahrung.

Es hat auch etwas Katholisches, was Sie erzählen: leiden, um zu geniessen; blind werden, um zu sehen.

Es braucht keine Ausnahmesituation, um diese Ruhe in mir zu finden. Sie steckt in uns allen, man muss sie nur aktivieren können. Durch Yoga oder Meditation. Niemand muss an den Nordpol gehen.

Wie prägen tiefe Temperaturen uns Menschen generell oder Gesellschaften als Ganzes?

Ich weiss nicht, ob ich das beurteilen kann. Ich versuche die anderen zu verstehen, bin aber nicht sehr gut darin.

Skandinavische Länder gelten als Orte des Glücks. Sie sind bekannt für hohe Lebensstandards und tiefe Einkommensunterschiede, Fortschritt und Wohlfahrt. Kann Kälte die Gesellschaft besser machen?

Schwer zu sagen. Aber im Herzen sind alle Norweger Sozialdemokraten. Das hat auch damit zu tun, wie gross unser Land ist und wie wenig Menschen darin leben. Das raue Klima dürfte weiter dazu beitragen, als Gemeinschaft stärker zusammenzuhalten und einander mehr zu helfen, solidarischer zu sein und mehr miteinander zu teilen. Ich stehe auch voll hinter diesen Werten, ebenso die Mitte-rechts-Partei.

Kältere Temperaturen führen zu wärmeren Gedanken?

Es ist zumindest interessant, über diese These nachzudenken. Auch wenn man nicht vergessen darf, dass Russlands Norden ein ähnliches Klima und eine ganz andere Kultur hat. Ist Ihnen Dugnad ein Begriff?

Dugnad?

Es gibt kaum ein positiver besetztes Wort in unserer Sprache. Ein Dugnad ist ein freiwilliger Arbeitseinsatz, an dem wir alle teilnehmen. Zum Wohle der Gemeinschaft. Am Dienstag zum Beispiel gibt es in der Schule ein Dugnad. Alle Eltern sind eingeladen, oder sagen wir, es wird von ihnen erwartet, vorbeizukommen, um beispielsweise die Wände im Schulzimmer neu zu streichen. Ein Dugnad kann etwa einberufen werden, wenn jemand ein renovationsbedürftiges Haus hat. Oder wenn ein Garten durch einen Sturm verwüstet wurde. Alle machen mit, und man kann sich auch nicht rauskaufen.

Das sollten Sie exportieren wie die Dänen ihr Hygge, das vermutlich auch ein Produkt der Kälte ist. Der Begriff scheint genau das zu umschreiben, was am Ende Ihres norwegischen Traums steht: Kaminfeuer, Gemütlichkeit, Heimidyll.

Kann sein. Gemäss Forschungen leiden Norweger viel weniger an Einsamkeit als Menschen in anderen Ländern der Welt. Das ergibt Sinn für mich.

Sind Nordländer cooler?

Ich glaube nicht, dass wir uns für cool oder uncool halten. Auch wenn mir die Doppeldeutigkeit des Begriffs schon klar ist. Wenn es noch eine skandinavische Charaktereigenschaft gibt, dann vielleicht Jante. Das bedeutet, dass alle gleich sein sollen, ob reich oder arm, jung oder alt, klug oder dumm. Ein durchschnittlicher Typ zu sein mit einem durchschnittlichen Job, gilt als Qualität. Aber das verschwindet langsam.

Wie die Kälte, die verschwindet auch. Was geht ­verloren?

Vieles. Darum rufe ich mir immer in Erinnerung, was sie mich gelehrt hat: wie fragil das Leben ist zum Beispiel oder dass die besten Dinge im Leben vergänglich sind.