Schön gefährlich

NZZ Folio, 2. März 2015
Fotos von Bruno Augsburger
Seit dem Bestseller «Into the Wild» gilt der Stampede Trail in Alaska als das ultimative Abenteuer. Auch Claire und Etienne wagten sich in die ewigen Wälder. Doch nur Etienne kehrte zurück.

Ich habe so viele Fotos gemacht, damit ihr seht, wie es hier aussieht und dass ich noch am Leben bin, hihi. (Aus einer E-Mail von Claire an ihre Familie, 10. August 2010)

Es ist der falsche Ort, der falsche Fluss, aber weiter als bis zum Ufer des Savage River kam Etienne nie. Er kniet vor den Steinen, die er damals unter einer Tanne aufgeschichtet hat. Als er in die Öffnung greift, ist noch alles da: das Gedicht und das Foto, das er kurz zuvor von ihr aufgenommen hatte – Claire vor Bären im Katmai-Nationalpark, ihr Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Wangen glühen. Die Farben verblassen, aber das Messingschild klebt fest am Stein: «Claire Ackermann, 14. August 2010. Stehenbleiben ist existieren, Reisen ist leben.»

Zweimal ist der Franzose bisher in dieses Tal in Alaska zurückgekehrt, in dem die Tannen eng nebeneinanderstehen. Das erste Mal kam er mit Claires Mutter und ihrer Schwester, am 14.August 2011, genau ein Jahr danach. Damals reichte schon der harmlose Savage River dem 1,90 Meter grossen Etienne bis zu den Hüften. Keine Chance, bis zum zweiten Fluss zu gelangen. Sie kehrten um. Am nächsten Morgen ging Etienne alleine los, marschierte acht Stunden durch Regen, Wind und Dickicht, um den Teklanika River über den Umweg des Bergrückens zu erreichen. Er schaffte es nicht.

Heute will er es erneut versuchen, zum letzten Mal, wie er hofft, «um die Schublade ganz zu schliessen». Etienne räumt die leeren Wasserflaschen von dem Memorial weg, die Plastictüten im Gebüsch dahinter, dann schultert er den Rucksack, keine Viertelstunde ist vergangen. «Wir müssen weiter», sagt er und springt mit wenigen Schritten durch den Fluss; der Savage führt diesmal extrem wenig Wasser.

Die Einheimischen nennen es «The Bush», dieses Land der Bären und Elche, in dem es im Winter minus vierzig Grad kalt wird und im Sommer die Tage nie enden. Wald, Fluss, Tundra, Wald, Fluss, Tundra, als gäbe es nichts anderes. Ausser der Gipfelkette mit dem Mount McKinley, 6194 Meter, dem höchsten Berg Nordamerikas. Heute verbirgt er sich hinter Wolken. Es ist kühl für einen Junitag, nur knapp zehn Grad, zum Glück. Je wärmer es wird, desto schneller schmelzen die Gletscher und machen aus Bächen reissende Flüsse.

Der nahe gelegene Denali-Nationalpark gilt als Tourismuswunder der Region, aber die Rettungshelikopter der Alaska State Troopers fliegen 75 Prozent ihrer Einsätze über dem Stampede Trail. Weil sich auf dem 32 Kilometer langen Pfad immer wieder Menschen verirren, verletzen oder verloren gehen. Mit wenig mehr im Gepäck als einer diffusen Sehnsucht gehen sie durch den Wald, dem Teklanika River entgegen und darüber hinaus, «into the wild».

Der Grund dafür heisst Christopher McCandless. Der College-Absolvent aus gutem Haus stahl sich mit 22 Jahren aus seinem vielversprechenden Leben. Anfang der 1990er Jahre reiste er ohne Auto und ohne Geld durch die Weiten von Texas, die Steppen Arizonas, von North Dakota über die kanadischen Rockies bis nach Alaska, um dort im April 1992 mit nicht viel mehr als ein paar Büchern von Henry David Thoreau und viereinhalb Kilo Reis in die Wildnis zu stapfen. Nach 32 Kilometern stiess er auf einen verrosteten Bus, den Minenarbeiter in den Sechzigern zurückgelassen hatten. McCandless fand darin ein Zuhause.

Er wollte fernab der Zivilisation in der Natur ein ursprüngliches Leben führen. Nur hatte er wenig Ahnung davon. Er ernährte sich von Wildpflanzen und Eichhörnchen, einmal erwischte er einen Elch; weil er ihn nicht ausweiden konnte, verlor er das Fleisch an die Fliegen. Nach zwei Monaten machte er sich auf den Rückweg. Doch nun, im Juli, war der Teklanika River für eine Querung zu hoch. Ein paar Hundert Meter flussabwärts hätte es eine handbetriebene Seilbahn gegeben, aber ohne Karte im Gepäck hatte der Aussteiger keine Ahnung davon. Nach 113 Tagen endete McCandless’ Tagebuch. Seine Leiche wurde im September gefunden, als Todesursache gilt offiziell «Verhungern», vielleicht hat er sich aber auch mit Wildpflanzen vergiftet.

Der Autor Jon Krakauer machte aus den Aufzeichnungen 1996 den Bestseller «Into the Wild», 2007 drehte Sean Penn den Film dazu; seither hat Alaska ein Problem: das McCandless-Phänomen. Die Einheimischen nennen sie «End of Roaders», die Touristen aus aller Welt, die auch nicht wissen, was sie tun, wenn sie McCandless nachwandern, um den «Magic Bus» zu sehen. Es sind jedes Jahr Hunderte. Manche von ihnen sind zuvor noch kaum je zu Fuss unterwegs gewesen. Manche haben einen Rollkoffer im Schlepp. Manche marschieren im Winter in Jeans los und glauben, den verschneiten Trail ohne GPS zu finden.

Im Frühsommer ist der Stampede Trail ein Feldweg, gerahmt von Büschen, Espen und Tannen, die wie Striche in der Landschaft stehen. Handy-Empfang gibt es keinen, aber sonst dürften sich die meisten McCandless-Touristen die Wildnis wilder vorgestellt haben. Auf den ersten Kilometern säumen zerdrückte Bierdosen die Büsche, Fetzen von Toilettenpapier, Zelte, zurückgelassen von erschöpften Wanderern. Der Boden ist von Quadbike-Pneus zerfurcht, überall Dreck und Pfützen.

Etienne ist an diesem Tag gut ausgerüstet. Zelt, Schlafsack, Proviant, Erste-Hilfe-Set, Satellitentelefon, Bärenspray, vier Tage Zeit für 64 Kilometer; er geht keine Risiken mehr ein. 1122 Kilometer ist er gefahren von seinem Wohnort Whitehorse, Yukon, bis nach Healy, Alaska, 14 Stunden. «Viel Zeit zum Nachdenken», sagt er.

Etienne und Claire waren nicht die typischen «Into the Wild»-Touristen. Sie kannten zwar die Geschichte von McCandless, aber erst als ihnen ein Franzose im Denali-Nationalpark vom Stampede Trail erzählte, von diesem Bus aus dem Film, kamen sie auf die Idee: «Wir dachten einfach, das wäre eine coole Wanderung.»

Jeden Tag campen wir an einem wilden Ort, nur wir und die Bären, lol. Wir essen Lachse, so gut. (23.Juni 2010)

Etienne und Claire. Im normalen Leben hätten sie sich nie kennengelernt. Er war ein Hippie im Wollpullover, langbeinig und schüchtern. Sie erinnerte an Victoria von Schweden, mit dem Strahlen im runden Gesicht, den Perlen in den Ohren, gross, blond, selbstbewusst. Mitte Juni 2010 waren sich die beiden in Vancouver zum ersten Mal begegnet, zwei Monate vor dem Stampede Trail. «Hey Leute!» hatte der damals 27jährige Franzose im Frühling auf einer Reisewebsite gepostet. «Ich will ein Auto mieten, von Vancouver nach Alaska fahren, wandern und kajaken. Lust, halbe-halbe zu machen?»

Claire hatte sofort geantwortet. Die 29jährige wohnte noch bei den Eltern in der Westschweiz, obwohl sie als Kundenberaterin bei einer Bank gut verdiente. Sie habe diesen Job nicht gemocht, sagt ihr Bruder, sie habe nur für die Stunden beim Sport, die Tage in der Natur, die Wochen auf Reisen gelebt. Irgendwann reichten fünf Wochen Freiheit pro Jahr nicht mehr aus. Der Trip ihres Lebens sollte fast zwei Jahre dauern, und hoffentlich auch in einen anderen Beruf führen, Tierfotografin am liebsten. Claire plante ihre Reise akribisch, verfasste ein zehnseitiges Dokument über Länder und Sehenswürdigkeiten, Titel: «Weltreise – was besuchen? Claire Ackermann, Juni 2010–2012.»

Etienne hingegen hatte keinen Plan, nur ein Ziel. Er wollte das Motiv auf seinem Bildschirmschoner in echt sehen: Alaskas Gla- cier Bay. Danach würde er um die Welt touren, Indien, Neuseeland vielleicht, mal sehen. Etienne war mit 23 von Lyon nach Kanada gezogen, hatte in Alberta und in Irland gelebt, war in Frankreich als Serviceingenieur für Industriemaschinen rumgekommen. «Ich liess mich treiben», sagt Etienne, «sie plante bis in die Details. Ich sass abends gerne am Feuer, sie war eine Frühaufsteherin. Und während ich kaum je eine Zeile nach Hause mailte, schrieb sie ihrer Familie alle zwei Tage.» Nach vier Wochen waren die beiden «eine Art Paar».

Zuerst unter dem Mount McKinley zelten, dann bis zum Bus aus «Into the Wild» wandern. Danach muss ich mich beeilen, ich habe zweifellos ein paar Tage Verspätung. (13.August 2010)

Als Claire und Etienne damals losmarschierten, war der Stampede Trail ein Sumpf, zuvor hatte es tagelang geregnet. Trotzdem waren sie schnell unterwegs. Sie wollten am ersten Tag zum Bus, am zweiten zurück, je zwei Flussüberquerungen, 64 Kilometer in 48 Stunden – mehr Zeit hatten sie nicht. Claire hätte nämlich schon Tausende Kilometer südöstlich sein sollen, in Vancouver. 59 Tage, genau so lange wollte sie laut Plan in Alaska bleiben, um dann mit einem Freund weiterzureisen.

«Hier irgendwo haben wir die Amerikaner eingeholt», sagt Etienne und zeigt mit dem Wanderstock auf einen hellen Fleck im dichten Grün. «Sie waren gerade beim Frühstück, Rob, der Army Ranger, Adam, Drew, die Namen der Mädchen habe ich vergessen.» Sie hatten sich am Vorabend kennengelernt und den üblichen Smalltalk geführt, dann habe man über McCandless gesprochen, den die Amerikaner für seinen «Free Spirit», seine Abkehr von der Gesellschaft bewunderten. «Ich dachte ähnlich», sagt Etienne. «Aber Claire hielt ihn für einen unvorbereiteten, naiven Idioten.»

Claire sei stets das Gegenteil von Unvorbereitet gewesen, sagen ihre Geschwister. Sie war Triathlonläuferin, Taucherin, sie kletterte, studierte vor jeder Bergtour die Route, ging nie ohne GPS oder Lawinensuchgerät aus dem Haus. Doch diesmal hatte sie einen Kompromiss gemacht, nicht einmal eine Karte ausgedruckt. Der Stampede Trail schien ihr «supereasy» zu sein, so ganz ohne Pässe oder Gletscherspalten. Und sie fühlten sich «superfit», stiegen seit Wochen Berge hoch und runter, massen sich aneinander, spornten sich gegenseitig an. Es sei eine magische Zeit gewesen, sagt Etienne. «Ich habe mich auf ihre Organisiertheit eingelassen, sie sich auf meine Spontanität. Ich habe ihr das Kajakfahren beigebracht, sie mir das Fotografieren. Ich bin plötzlich um 7 Uhr morgens aufgestanden, sie hat die Abende am Feuer genossen.»

Nichts konnte sie aufhalten. Nicht die Besitzerin einer Lodge an der Zufahrt zum Stampede, die warnte, wie gefährlich die Gletscherflüsse in der Sommerhitze würden. «Die meisten Einheimischen setzen ja gar nie einen Fuss auf einen Trail.» Nicht der Australier, der ihnen entgegenkam und sagte, der Teklanika sei viel zu hoch. «Mit seinem viereckigen Stadtrucksack wirkte er kein bisschen Outdoor-erfahren.» Und nach dem ersten Fluss hätten sie über die berüchtigten Flussquerungen Alaskas nur gelacht, der Savage River reichte ihnen gerade mal bis zu den Waden.

Auf halber Strecke zum Teklanika, dort, wo der Weg zum Sumpf wird und die Sicht offen, bewegt sich etwas Rotbraunes. Etienne hält an. Ein Bär? «Hello», ruft jemand, «habt ihr vielleicht einen Energieriegel zu viel dabei?» Es sind vier Belgier, die aus den USA per Autostop hierhergereist sind, genau wie McCandless damals. Und genau wie ihr Vorbild haben sie auch nur Reis mitgenommen. Jetzt sind sie hungrig und frieren, ihre Jeans triefen auch Stunden nach der Flussüberquerung. «Aber hey», sagt einer begeistert, «wir waren beim Bus!»

Eineinhalb Stunden nach Claires Memorial am Savage River verliert sich der Trail im Wasser: dem Teklanika. Eine Weile lang stützt sich Etienne auf seine Wanderstöcke und schaut, wie der Fluss an ihm vorbeilärmt. «Hier war das Seil gespannt», sagt er schliesslich und zeigt nach rechts. Der Fluss sei sehr hoch gewesen, aber man habe seine Tiefe nicht erkennen können. «Wenn wir Karabinerhaken gehabt hätten, wäre das nicht passiert. Wenn das Seil in einem Winkel gespannt gewesen wäre, hätte uns die Strömung ans Ufer gezogen, ganz automatisch. Aber eben», sagt Etienne und starrt auf das Wasser, «zu viele Wenns. Das Seil war eine Todesfalle.»

Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wer damals was vorgeschlagen hat, als sie zur Mittagszeit am Teklanika ankamen. Hier am Seil rüber? Oder nach einer besseren Stelle suchen? Zusammen? Oder einer nach dem anderen? Angebunden oder nicht? Was Etienne noch weiss: Umkehren war keine Option. Und Claire wollte auf keinen Fall alleine in das eisige Wasser steigen. Schliesslich zogen sie sich bis auf die Unterwäsche aus, Claire tauschte ihre Wanderschuhe gehen Sandalen, sie wuchteten die Rucksäcke wieder auf den Rücken, dann passierte der erste Fehler. Mit einem Seil aus Etiennes Rucksack knoteten sich beide am Spannseil fest, küssten sich und wateten in den kniehohen Fluss.

Die Kälte brannte, die Strömung riss, aber sie kamen gut voran, er vorne, sie hinten. In der Flussmitte reichte ihnen das Wasser schon bis zu den Hüften, und Claire in ihren Sandalen rutschte auf den Steinen. Sie wankten, das Hauptseil dehnte sich, gab keinen Halt, aber sie waren dem anderen Ufer schon nah. Dann wurde das Wasser plötzlich tief, Claire glitt aus, riss Etienne mit. Wie in einem V hingen sie am Seil, konnten den Boden nicht mehr spüren, das Hauptseil nicht packen – es war zu weit weg. Die Strömung drückte sie immer wieder unter Wasser. Etienne tastete nach dem Messer in der Aussentasche seines Rucksacks, fand es und traf die falsche Entscheidung. Er dachte, er würde Claire an die Strömung verlieren, wenn er ihr Seil durchtrennte. Er schnitt zuerst sich selber los. Sie rief noch: «Lass mich nicht allein!»

Die Strömung riss Etienne mit, er schluckte Wasser, versuchte ans Ufer zu kommen, schwamm mit aller Kraft. Mit der einen Hand umklammerte er das Messer, mit der anderen griff er nach den Büschen, aber sie rissen nur Schrammen in seine Haut. Bis er sich ans Ufer ziehen konnte und dann hochstrauchelte zum Seil, waren kaum fünf Minuten vergangen. Aber Claires Kopf war unter Wasser. Etienne sprang in den Fluss, packte Claire und schnitt sie los, die Strömung riss sie weg. Als er sie endlich wieder zu fassen kriegte, schlug der Teklanika beide von Felsen zu Felsen; erst ein paar Hundert Meter flussabwärts spülte er sie in einer Kurve auf eine Sandbank.

«Ich habe sie zu nichts gedrängt», sagt Etienne am Abend im Camp, es klingt wie eine Beschwörung. Die Zelte stehen am Teklanika, ein Feuer brennt. Claire hätte sich zu nichts drängen lassen, fährt er fort, Zigarette in der Hand, Blick in die Flammen. «Dafür war sie viel zu stark. Ich habe alles getan, was getan werden musste.» – «Fast», korrigiert er sich dann und erzählt, wie er nach dem Unfall in den Yukon zog, um diesem Ort nah zu sein. Obwohl seine Eltern bei jedem Anruf fragen, wann er endlich heimkomme. Aber zuerst muss er es schaffen, «die Schublade zu schliessen» und zurückzukehren zu dieser Sandbank.

Diese Reise tut mir so gut, sie ist besser, als ich es mir je vorgestellt hätte, ich lebe einen Traum. (11.August 2010)

Der nächste Morgen kommt mit trübem Himmel und eisigem Wind. Etienne will zuerst den Teklanika queren, zum Bus wandern und dann hierher zurück. Ein paar Hundert Meter flussaufwärts ist der Fluss breiter und flach. Als er sich in drei langgezogene Zungen teilt, zeichnet Etienne den Weg von einer Insel zur nächsten mit dem Wanderstock in die Luft. Rucksäcke aufschnallen, ineinander verhaken, einen Fuss vor den anderen, nach vorne gebeugt, gegen die Strömung, auf die erste Insel, zur zweiten, zur dritten, die Strömung reisst, die Haut brennt, nur ein paar Meter noch, Etienne nimmt den letzten Meter in einem Satz, streckt die Wanderstöcke in Siegespose in die Höhe und schreit: «Yeah!»

Der Bus ist vier Wanderstunden vom Ufer des Teklanika entfernt. Er steht am Rand einer Lichtung, halb eingewachsen in den Busch, weiter unten rauscht der Sushana River. Die grüne Farbe blättert, in den Fenstern fehlt das Glas, an manchen Stellen ist er von Schüssen durchlöchert. Jemand hat mit Steinen «Truth» in den Boden geschrieben. Im Innern haben die Besucher das meiste geklaut, doch da sind noch der Ofen, mit dem McCandless heizte, der rostige Stuhl und das Bett, in dem sein Leben endete. Das Regal ist vollgestopft mit Dingen, die Wanderer zurückgelassen haben, Esswaren, Medikamente, Schuhe sogar. Die Wände sind vollgeschrieben mit Namen oder Zeilen wie «Never Stop Exploring» und «Live the life you wanted». In einem blauen Köfferchen finden sich Bücher, unter anderem ein Journal, in dem sich Wanderer aus aller Welt verewigen. Der letzte Eintrag stammt von einem der Belgier: «Möge der Abenteuergeist und der Ruf der Wildnis all jene nie verlassen, die an diesem Ort waren.»

Auf dem Rückweg kommt dann der Moment, auf den Etienne fast vier Jahre lang gewartet hat. Das Ufer ist steil, unten rauscht der Teklanika, macht eine Kurve. Links eine Felswand, rechts die Sandbank. «Hier», sagt Etienne, und klettert hinunter. Da lagen sie, nackt und von Steinen zerschunden. Etienne versuchte, Claire zu beatmen, irgendwann rannte er los, um Hilfe zu finden. 300 Meter flussaufwärts waren die Amerikaner gerade dabei, denselben Fehler zu machen. Nur spannten sie das Seil und banden sich mit einem Karabinerhaken daran fest. Rob und Adam hangelten sich durch den Fluss, als sie Etienne sahen, wie er nackt, barfuss und blutend dem Ufer entlangrannte. 15 Minuten später war Rob bei Claire. Er konnte keinen Puls mehr fühlen.

Um 17.43 Uhr des 14.8.2010 ging bei den Alaska State Troopers der Notruf ein. Um 00.26 Uhr des 15.8.2010 wurde das Schweizer Konsulat informiert. Um 00.53 autorisierten die Forensiker den Transport des Körpers in die «Northern Lights»-Leichenhalle, etwa zur gleichen Zeit rief man Claires Eltern an.

Erst will Etienne das Foto an der Tanne aufhängen, unter dem er mit Rob auf den Helikopter der Alaska State Troopers wartete. Claire lag neben ihnen, zugedeckt mit seiner Zeltplane, ein kleines Feuer brannte; die Steine sind immer noch da. Schliesslich entdeckt er eine kleine Höhle in der Erde, gerade gross genug. Er stellt das Foto hinein, das er seit langem mit sich trägt, macht ein paar Schritte zurück, um es betrachten zu können. Dann befestigt er das Bild mit Steinen. Es dauert eine Weile, bis er zufrieden ist, weil sie da nun sicher stehen: Etienne und Claire, vor dem Mendenhall-Gletscher, Arm in Arm.

Ein paar Tage nach dem Trip mailt Etienne: «Irgendetwas ist jetzt abgeschlossen. Ich werde nicht mehr an den Teklanika zurückkehren.» Soeben hat er eine Offerte für ein Segelboot eingereicht. Bekommt er den Zuschlag, wird er es reparieren. Zum ersten Mal seit vier Jahren hat Etienne wieder eine Freundin. Sobald sie 40 000 Dollar zusammengespart haben, wollen die beiden lossegeln.

Claire ist in ihrem Heimatort Veyrier beerdigt worden. Die eine Hälfte ihrer Asche liegt auf dem Friedhof, fünf Minuten von ihrem Elternhaus entfernt. Die andere Hälfte ist im Garten der Ackermanns begraben, unter einem Rosenstrauch. Die Familie versucht im Moment, eine Galerie zu finden, die Claires Reisefotos ausstellt; man würde damit ihren Traum verwirklichen.

Ausserdem haben die Ackermanns gemeinsam mit dem Buchautor Jon Krakauer und der Schwester von Christopher McCandless ein Projekt ins Leben gerufen: eine Brücke über den Teklanika, damit nicht nochmals ein Unglück geschehe. Es gibt eine Arbeitsgruppe und erste Pläne, noch aber fehlen das Geld und vor allem die Unterstützung der lokalen Bevölkerung und die Bewilligung. Autoritäten wie die Alaska State Troopers befürchten, mehr Sicherheit würde noch mehr Leute auf den Stampede Trail locken. Man hat auch schon diskutiert, den Bus stattdessen in die Luft zu sprengen.