Sind Pinguine suizidal?

NZZ am Sonntag, Hintergrund, 29. August 2020
Fotos von Silverback Films
Tierfilmer Alastair Fothergill hat aus BBC-Dokus millionenteure Blockbuster gemacht. Ein Gespräch über Gigantismus, fischende Eisbären und die Frage, was der perfekte Filmtod einer Gazelle ist.

NZZ am Sonntag: Ihre Netflix-Serie «Unser Planet» wurde im ersten Monat von über 145 Millionen Menschen in 190 Ländern geschaut. Was bringt die Massen dazu, balzenden Vögeln zuzusehen oder Pinguinen beim Brüten?

Alastair Fothergill: Die Menschen werden immer urbaner und brauchen die Grenzenlosigkeit der Natur mehr denn je. Insbesondere in Krisen. Ein Beispiel ist «Der blaue Planet». Wir haben fünf Jahre an dieser Serie über das Leben in den Weltmeeren gearbeitet. Einen Tag vor der Premiere ist das World Trade Center angegriffen worden. Ich war gerade in einem Fernsehinterview, als die BBC live nach New York schaltete und von da an 24 Stunden lang Nachrichten brachte. Können Sie sich vorstellen, was dann passierte?

Die Premiere war gelaufen.

Dachten wir auch und dachten falsch. Sie fand statt und erzielte Traumquoten. Es war der Anfang einer neuen Zeit. Von da an sind Budgets in der Höhe von dreistelligen Millionen-Dollarbeträgen normaler geworden.

Menschen sterben, und wir wollen sehen, wie Haie Beutefische fressen?

Bis heute sagen mir viele, wie schön es ­damals war, abzutauchen in eine wunderschöne Welt, in der es keine Menschen gibt.

Bietet die Natur noch Stoff für Eskapismus?

Es wird immer schwieriger, Orte zu finden, an denen wir filmen können. Was früher wild war, kann heute voller Touristen sein. Aber das ist ein egoistischer Gedanke. Am meisten Sorgen macht mir die Zerstörung des Planeten.

Trotzdem haben Sie vor «Unser Planet» fast nur heile Natur gezeigt und, wie Kritiker sagen, die Realität verzerrt. Warum?

Es gibt sehr viele talentierte Umwelt­filmer. Ich komme hingegen vom klassischen Naturfilm. Zudem ist das Verständnis vom Zustand unseres Planeten noch relativ neu. Als ich in den neunziger Jahren in der Antarktis war, hat kein Mensch vom Klimawandel gesprochen.

Neu? Artensterben, Abholzen der Wälder oder Verschmutzung der Meere sind doch uralte Probleme.

Ich habe den Klimawandel in einer Folge thematisiert oder das Plastik in den Meeren. Aber wenn man schlechte Nachrichten nicht dosiert, zappen die Leute weg. In unserem Sendeumfeld laufen Dramas, Soaps, Reality-Shows. Das Geschäft war immer sehr kompetitiv und so auch meine Auftraggeber. Wir produzieren für Millionen von Zuschauern, die am Ende eines harten Arbeitstags vor dem Fernseher entspannen wollen.

Der Aufwand dafür ist enorm, wie die Produktionszahlen von «Unser Planet» zeigen: 3375 Filmtage, 6600 Drohnenflüge, 911 Tage auf See, 600 Crew-Mitglieder, über 200 Filmreisen in 60 Ländern, Helikopter, Schneemobile, Kameraroboter. Ist das noch zeitgemäss?

Unser ökologischer Fussabdruck ist tatsächlich ein grosses Problem. Wir überlegen konstant, wie wir ihn reduzieren können. Inzwischen wissen wir, dass unsere Heliflüge fast halb so viel CO2 verbrauchen wie die Flugreisen. Künftig wollen wir nur noch mit Drohnen arbeiten. Das Equipment reduzieren wir auch laufend, eben haben wir alle Materialboxen durch leichte Plastikbehälter ersetzt. Das ist natürlich nicht genug. Aber unsere Filme tragen dazu bei, den Menschen bewusst zu machen, was auf dem Spiel steht. Würden wir aufhören, wären die Probleme der Umwelt nicht gelöst. Und wie kann man sich um einen Schneeleoparden sorgen, ohne ihn je gesehen zu haben? Man schützt, was man kennt und liebt.

Sie bezeichneten den Schneeleoparden einst als heiligen Gral der Branche. Was filmen Sie in einer Welt, in der bereits alles entdeckt, dokumentiert und bedroht scheint?

Lange galt der Riesenkalamar als heiliger Gral. Aber so einen konnte ein Freund kürzlich filmen. Momentan wollen wir in britischen Gewässern einen sogenannten Bakeball von Blauflossenthunfischen drehen. Davon spricht man, wenn Fische zusammen eine Gruppe von kleinen Beutefischen jagen. Wir versuchen Verhaltensweisen zu filmen, die nie zuvor gezeigt wurden. Eisbären zum Beispiel, die anfangen, Fische zu fangen, weil das Eis für die Robbenjagd wegschmilzt. Sie haben das ganze Jahr über verschiedene Jagdmethoden. Ich arbeite gerade an einem Film, in dem wir das komplette Jagdverhalten zeigen.

Wie gehen Sie mit der Tatsache um, dass Eisbären keine Drehbücher lesen?

Die Geschichte ist das Wichtigste. Also besteht ein grosser Teil unseres Jobs aus Re­cherche. Wollen wir zeigen, wie Hyänen in Kenya Antilopen jagen, wissen wir lange zuvor, wann die Antilopen da sind, in welchem Monat sie Kälber haben. Wir schreiben Storyboards, definieren den Kern der Geschichte und den Aufbau. Trotzdem war ich noch nie auf einem Dreh, bei dem alles wie geplant lief. Die Natur ändert die Regeln immer. Unser Job ist, uns an diese Veränderungen anzupassen. Oft kommen dabei bessere Geschichten raus.

Zum Beispiel?

Für einen Disneyfilm wollten wir ein Schimpansenbaby in den ersten fünf Jahren begleiten. Es ist das Schlüsseldrama im Leben von Schimpansen. Die meisten sterben in dieser Zeit an Krankheiten oder werden von Feinden gefressen. Nachdem wir eine Mutter und ihr Baby zwei Jahre begleitet hatten, wurden sie von einer anderen Schimpansengruppe angegriffen. Unsere Mutter kam dabei um. Das ist das Ende des Films, sagten die Biologen, das Baby wird sterben.

Nicht wirklich ein Happy End.

Ja, ich wollte die Auftraggeber gerade ­anrufen und sagen, das war’s. Dann geschah etwas Unglaubliches: Der Machoaffe, das Alphatier, hat angefangen, das Baby auf dem Rücken zu tragen und Früchte mit ihm zu teilen. Er hat es adoptiert. Ich hätte mir keine bessere Geschichte ausdenken können.

Die Natur schreibt häufig grausame Geschichten. Wie viel zensurieren Sie?

Nun, wir lügen nicht. Gleichzeitig haben wir eine Verantwortung. Ich will, dass Eltern mit ihren Kindern vor dem Fernseher sitzen können. Man muss nicht sehen, wie ein Gepard eine Gazelle frisst. Es verstärkt das Narrativ nicht. Die Jagd ist das Spannende, was danach kommt, weiss jeder. Ein perfekter Disney-Kill ist, wenn die Gazelle hinter einem Termitenhügel stirbt.

Für Ihre Netflix-Serie harrten Filmer Monate in winzigen Verschlägen aus, um für ein paar Sekunden einen sibirischen Tiger zu filmen. Und im Dschungel von Sumatra folgten sie Orang-Utans durch den wadentiefen Sumpf, bis ihre Beine wund von Ausschlägen waren. Ertappen Sie sich manchmal bei dem Gedanken, einen vollkommen blödsinnigen Job zu haben?

Es mag verrückt sein. Aber es hat einen eigenen Zauber. Im Rhythmus der Natur leben, mit der Sonne aufstehen und ins Bett gehen. Normalerweise bin ich zwei bis drei Monate pro Jahr unterwegs. Das ist für mich fast so wichtig wie atmen.

Es gibt noch ein paar andere Vorurteile gegen Ihre Zunft. Gehen wir die mal durch. Nummer 1: Sie locken Tiere mit Ködern vor die Kamera, was etwa für Bären das Todesurteil sein kann, weil sie Menschen fortan mit Nahrung asso­ziieren.

Ich habe noch nie so etwas getan, und es macht mich wütend. Auch dass viele zu nah filmen und die Tiere damit stressen. Die goldene Regel ist, die Natur möglichst nicht zu stören und natürliches Verhalten zu filmen. Ausnahmen machen wir nur bei sehr kleinen Lebewesen, für die man Makrolinsen und viel Licht braucht. Ameisen zum Beispiel bringen wir als ganzen Haufen ins Studio, aber das macht nichts, weil die das nicht merken. Unsere Linsen sind inzwischen so scharf und die Stabilisatoren so gut, dass wir aus Hunderten von Metern Distanz filmen können.

Nummer 2: Sie dramatisieren das Genre, indem Sie nur Tiere beim Töten zeigen, Tiere beim Sex oder Tiere mit Babys.

Nun ja, was tun Tiere den ganzen Tag? Futter suchen, kämpfen und überleben. Es gibt diese Tendenz jedoch schon, vor allem in den USA, wo im Stile von Snufffilmen nur Raubtiere gezeigt werden und Kampfszenen, Fressen und Gefressenwerden. Dabei muss man das Genre gar nicht «aufsexen», die natürliche Welt ist in ihrer Vielfalt dramatisch genug. Wir zeigen ja auch, wie Orchideen Bienen anlocken oder Vögel balzen. Wobei das ist auch eine Art Sex ist oder zumindest das Vorspiel.

Nummer 3: Noch eine Tragödie Ihres Jobs ist, Touristen in die letzten Paradiese zu locken.

Unkontrollierter Tourismus schadet enorm. Umgekehrt kann organisierter Tourismus sehr viel bewirken. In Costa Rica zum Beispiel, wo 50 Prozent des Landes unter Schutz stehen – ein grossartiges Konzept, für die Natur ebenso wie für die Wirtschaft. Heutzutage kann die Rettung der Wildnis nur ökonomisch gelingen. Nehmen wir Afrika: Ohne Tourismus wäre die Natur nicht zu retten. Ohne Nationalparks gäbe es vermutlich kaum mehr Tiere. Im Grossen und Ganzen hat der Ökotourismus, den wir fördern, mehr Gutes als Schlechtes gebracht.

Waren Sie eigentlich einer dieser Buben, die mit Lupen herumlaufen und Käfer fotografieren?

Käfer nicht. Aber ich hatte Schlangen unter dem Bett und war immer draussen, an der wilden Küste von Norfolk, wo es viele Dünen und Wasser gibt, ideal für Vögel. Das war meine Leidenschaft.

Viele halten Vögel für die langweiligsten Tiere der Welt.

Wissen Sie, welche Sequenz auf Netflix zu den erfolgreichsten zählt?

Nein.

Die von der Blaubrustpipra, die mit drei männlichen Kollegen einen Balztanz einstudiert. Je mehr Zeit Sie mit einem Tier verbringen und je besser Sie es verstehen, desto interessanter wird es, und desto grösser wird der Respekt. Eisbären respektiere ich am meisten, weil sie im Norden die ultimativen Überlebenskünstler sind wie die Pinguine die im Süden.

Sind Pinguine nicht suizidal, wie Werner Herzog im Film «Begegnungen am Ende der Welt» behauptet?

Quatsch. Pinguine sind unglaublich gut angepasst an die Antarktis. Ja, das Eis verändert sich, und das Leben ist hart, ihre Küken verhungern, aber sie rennen sicher nicht ­davon, um sich umzubringen.

Herzog hat geschummelt?

Ich habe die Szene nicht mehr genau im Kopf und sage besser nichts mehr dazu.

Sicher ist: Werner Herzog ist ein grosser Fan von David Attenborough, den Sie sozusagen zur lebenden Legende gemacht haben.

Ich sehe unsere Zusammenarbeit als Evolution. David hatte in den fünfziger Jahren als Erster die Vision, das Leben auf der Erde in Serien zu dokumentieren. Früher stand er für die BBC vor der Kamera, ich arbeitete als Regisseur und Produzent dahinter. Später entwickelte ich die Serien, und David wurde deren Erzähler. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, mit jeder neuen Produktion Grenzen überschritten und Pionierarbeit ­geleistet zu haben. Wir konnten zum ersten Mal zeigen, wie Schimpansen Affen jagen. Die meisten halten unsere nächsten Verwandten für friedliche Vegetarier, dabei sind sie ziemlich blutrünstig. Und auf dem offenen Meer oder in der Tiefsee hat vorher auch noch niemand gedreht.

Weil es gefährlich ist. Wie oft fürchteten Sie, David Attenborough in den Tod getrieben zu haben?

Oh, einige Male. Und das ist natürlich ein schreckliches Gefühl. Nach der Queen ist David der berühmteste Mensch Grossbritanniens. Alle lieben ihn, als Naturforscher vor der Kamera ebenso wie als Erzähler dahinter. Besonders schlimm war es auf den Bahamas, wo David plötzlich bewusstlos im Wasser trieb. Wir hatten ihn mit Fleckendelfinen gefilmt. Als er auftauchen wollte, wurde er von einer Welle unter das Boot gespült. Auf einmal war alles voller Blut, und ich dachte: Das Einzige, was nie in meinem CV stehen darf, ist, Sir David Attenborough getötet zu haben.

Sind Sie erfolgreicher, weil Sie mehr Risiken eingehen?

Nein, ich nehme Sicherheit sehr ernst, schliesslich trage ich die Verantwortung. Aber unsere Produktionen sind sehr teuer. Es reicht nicht mehr, einfach einen Löwen zu zeigen. Wir müssen die Latte immer höher legen, und das ist riskant. Vor jedem Dreh stufen wir die Gefahren in die Kategorien hoch, mittel und tief ein. Dann überlegen wir, wie diese zu minimieren sind. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie: Ich glaubte in der Arktis auch schon zu wissen, wo das Eis dick genug war. Bis die Vorderräder des Fahrzeugs einbrachen. Wir konnten uns gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Was ist am gefährlichsten?

Tauchen. Und andere menschgemachte Situationen wie Helikopter fliegen oder auf afrikanischen Strassen fahren. Tiere sind nie das Problem, solange sie nicht gestört werden. Das einzige Tier, das Menschen frisst, ist der Eisbär.

Sie waren mehrfach in bis zu 3000 Metern ­Tiefe. Was ist das für ein Gefühl?

Ein aufregendes. Der Meeresgrund ist schlechter erforscht als die Oberfläche des Mondes. Dort gibt es eine Vielfalt an Lebewesen, von denen noch nie jemand gehört hat. Nur etwa 20 Tiefseetauchboote können dem Druck da unten standhalten, winzige Dreisitzer, die für Pilot, Kameramann und Regisseur Platz haben. Natürlich ist das auch ein bisschen furchteinflössend. Weil man hängen- oder steckenbleiben kann. Die ­Sau­erstoffreserven sind begrenzt. Es ist zudem sehr kalt. Man kann an Hypothermie sterben. Und ja, das ist alles schon passiert, leider. Trotzdem liebe ich es. Ich war zwar nie Astronaut, aber im Weltraum muss es ähnlich sein.

Was macht das mit einem, an den schönsten Orten der Welt gewesen zu sein und gleichzeitig zu sehen, wie diese vor die Hunde gehen?

Es bringt nichts, sich deprimieren zu ­lassen. Wenn ich etwas gelernt habe da draussen, dann ist es, mir keine Sorgen über Dinge zu machen, die ich nicht kontrollieren kann.

Und was ist die wichtigste Lektion, die Ihnen Tiere erteilten?

Nichts zu verschwenden.