Spidergirl

NZZ am Sonntag, 6. März 2016
Fotos von Christiaan Felber
Sie ist klein und schmal, doch an der Felswand nimmt sie es mit den stärksten Männern auf: Die 14-jährige Ashima aus New York gilt als das grösste Ausnahmetalent, das das Klettern je gesehen hat.

Als Miko und Poppo ein Kind wollten, waren sie schon 40 Jahre alt. Andere verabschieden sich in diesem Alter langsam von dem Gedanken, die Shiraishis hingegen liessen sich nicht von den Gesetzen der Natur abhalten. Und auch nicht von den Hormonbehandlungen, die Miko mit Depressionen malträtierten. Oder den Arztrechnungen, für die sie die letzten Cents zusammenkratzten. Was Beziehungen zerstört, hielten die Japaner zehn Jahre lang aus. Bis im Reagenzglas ihr «Miracle Baby» heranwuchs. Sie nannten es Ashima. Ein Name mit vielen Bedeutungen. Einer davon ist «grenzenlos».

14 Jahre später, Madison, Monona Terrace Congress Center: Teenager klettern im Scheinwerferlicht die Wände hoch, angespornt von pumpenden Housebeats und einem Moderator, der «Come on» ins Mikrofon ruft oder «You can do it». Sie ziehen sich hinaus, krallen sich fest, als ginge es um viel mehr als die amerikanische Meisterschaft, Bouldering Youth National Championships, Final. Im Publikum kreischen 2000 Menschen und halten die Smartphones bereit. Einfach so sind sie nicht in diese gesichtslose Stadt gekommen, sie wollen die 1452 sehen, Ashima Shiraishi, das Wunder aus New York, das an der Wand so etwas werden soll wie Federer auf dem Tennisplatz. Und als Ashima endlich in den Saal huscht, eingehüllt in Melancholie und ein Fleece in Babyblau, dann können sie es kaum glauben. Wie klein sie ist, wie zerbrechlich.

Ashima setzt sich mit dem Rücken zur Wand, um auf ihren Einsatz zu warten. Sie hält sich die dünnen Arme, als wollte sie sich wärmen, dabei sind die Temperaturen hier fast tropisch. Sie ist weiss wie die Wand und schaut durch die Zuschauer hindurch, als wäre sie gar nicht da. Das soll das Eidechsenmädchen sein, die talentierteste Kletterin aller Zeiten?

Ashima ist keine Alpinistin wie Reinhold Messner. Ihre Disziplinen heissen Bouldern und Sportklettern, es geht nicht darum, die Welt von oben zu sehen. Es geht um den perfekten Weg dahin, um Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Technik und Risiko. Beim Bouldern wird ohne Seil geklettert, an Felsblöcken oder wie in diesem Konferenzsaal, an künstlichen Wänden mit bunten Tritten und Griffen, die heute wie geometrische Figuren und Pusteln aussehen. Wer Fehler macht, fällt wie ein Mehlsack auf die Matte und beginnt von vorn. Bouldern, heisst es, ist Leiden.

Die Durchgänge sind so schwer, dass die Hälfte es nicht über die ersten Meter schafft. Das kann mit der Beschaffenheit der Griffe zu tun haben. Zudem kommt darauf an, wie weit sie auseinanderliegen und wie senkrecht oder überhängend die Wand ist. So ist das auch beim Sportklettern, wo zur Sicherung Seile und Haken verwendet werden. Man kann nun ein paar Titel aufzählen, um Ashimas Erfolge in diesen Disziplinen zu beschreiben: Mehrfache amerikanische Meisterin, Weltmeisterin, berühmt machen sie jedoch Sensationen wie «Open Your Mind Direct.»

So heisst die Hölle. Eine der härtesten Kletterrouten der Welt. Sie liegt in Katalonien, in einer rosa Kalksteinhöhle namens Cova Gran. Mächtiger Überhang, messerscharfer Felsen. Die Risse liegen so weit auseinander, dass man sich von einem zum anderen schwingen muss, um das Ende des überhängenden Kliffs zu erreichen. Das schaffen nur Männer, Chris Sharma oder Adam Ondra, die stärksten Kletterer der Welt. Und – Ashima. Mit 13. Als erste Kletterin und Jüngste aller Zeiten. Auf der Schwierigkeitsskala von 1 bis 9c entspricht die Route einer 9a+. Luft nach oben gibt es kaum. Da liegt die Grenze des Menschenmöglichen.

«This morning, new sponsor!» sagt Ashimas Mutter Miko während der Qualifikation. Sie hat Fransen wie die 14-Jährige Tochter und einen strengen Bob. Es ist zwar schon fast vierzig Jahre her, seit sie und Poppo von Tokyo nach Manhattan gezogen sind, trotzdem sprechen beide nur gebrochen englisch. Er experimentierte als Tänzer, sie arbeitete im Modeladen. Heute haben die kleinen Japaner denselben Job: Ashima Superstar. Miko ist Assistentin, Sekretärin und Kleidertaschenträgerin, Poppo ist Coach, Masseur und Klettertaschenträger.

«Japanese Airline Ana!» flüstert Miko, «But schhht, secret», sagt sie, als hätten wir uns nicht gerade kennengelernt und hebt den Zeigefinger, wie das Eltern ihren Kindern gegenüber gerne tun. Als Nächstes verrät sie den Fotografen, der Ashima für die Vogue geshootet hat (Mario Sorrenti) und Ashimas Einkommen (100 000 Dollar).

Miko kennt keine Grenzen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Ich und Du. Menschen teilt sie in zwei Hälften ein: Auf der einen Seite stehen die Aussergewöhnlichen, die Ashimas, und auf der anderen die Durchschnittlichen. Das Mädchen zum Beispiel, die jetzt unbeholfen in der Wand baumelt. «Average person, middle class body, see?» Gefallen ihr die Fragen, belohnt sie mich mit einem kräftigen Schlag auf den Arm. Im umgekehrten Fall formt sie ihren Mund zu einem stummen Oh: «Me? Nervous? Ashima change climbing industry forever!»

Es sind hohe Erwartungen einer Mutter an ihre Tochter. In Wahrheit waren sie schon vor Ashimas Geburt viel höher: Jahrzehntelang hatte Miko geschuftet wie ein Tier, tagsüber im Laden und nachts an der Nähmaschine, um für Poppo und seine «Go-Go-Boys»-Tänzer Kostüme zu nähen. Bis sie ihr Leiden in etwas investieren wollte, das Spuren in dieser Welt hinterlässt, etwas Beständiges, ein Baby. Aber nicht einfach irgendeines: Miko betete für ein Kind, das einzigartig werden sollte. Und als sie es endlich in den Armen hielt, nach zehn Jahren Kampf, da flüsterte sie: «Make people happy – like Mother Theresa or the Beatles».

Heute tapeziert sie die Loft in Chelsea mit Ashimas Medaillen und Artikeln. Daneben hängen die Prüfungen der Wundertochter, lauter Sechser, was denn sonst, Ashima ist auch in der Schule die Beste und die Schönste. «Forbes», «CNN» und «Time» zählen sie zu den einflussreichsten Teenagern unserer Zeit. An der Ted-Konferenz hat sie der Welt mit ihrer feinen Stimme von der «unendlichen Befriedigung» erzählt, die sie in der Vertikalen empfindet, wo sie alles vergessen kann. Und als Ashima nun im Monona Terrace ihre Jacke abstreift, kreischen die Kinder und die tätowierten Typen halten den Atem als, als wäre sie tatsächlich ein Superstar.

Sie dreht sich zur Wand, um die Linie zu studieren und die Züge pantomimisch durchzugehen, in aller Ruhe, als hätte sie nicht bloss vier Minuten Zeit. Im Vergleich zu ihrer verschwindenden Postur sind die Schultern enorm breit. Als sie lossteigt, poppen Rückenmuskeln hervor, wo sonst nur Kinderflaum zu sehen ist. Es heisst, sie könne mit diesen Muskeln denken, den Weg nach oben bis in die verhornten Finger und Zehen spüren. Es heisst, dass es zwei Ashimas gibt: Das liebe Mädchen. Und die Bestie an der Wand.

Die Metamorphose begann mit sechs Jahren. Nicht etwa während Ferien in El Paso, wo klettern eine logische Freizeitbeschäftigung wäre, nein, im Central Park, an einem Schieferblock namens Rat Rock. Da kraxelte Ashima rum, nur so zum Spass. Es war ein Japaner namens Yuki, der sie dabei als Ausnahmetalent identifizierte. Ein Gärtner, der wie Mr. Miyagi in «Karate Kid» als spiritueller Führer der Rat-Rock-Kletterer galt. «Langsam ausholen» lehrte er, «Balance halten». Ashima fiel das so leicht wie das Gehen. Die Linie zu finden war ein Spiel, ein Puzzle. Bald gewann sie den ersten Wettkampf, das Grossstadtkind, das nie einen anständigen Berg gesehen hat.

Damit steht Ashima für eine Zeitenwende. Früher kletterte man, um die Welt von oben zu sehen, inzwischen ist der Sport mehr Fitness für die Masse als Philosophie für Individualisten, mehr Plastic als Natur, mehr Show als Zen. Diese Meisterschaften finden in einem Saal mit Teppichboden statt, in dem sonst Powerpoint-Präsentationen abgehalten werden. Die Leute trinken Bier aus Pappbechern, und die Musik ist so laut wie an Poppos Performances in den Achtziger Jahren, als er sich goldig anmalte und verrenkte. Butoh heisst sein Ausdruckstanz, es sieht aus wie Schwanensee auf LSD.

Ashima

Unter den knackigen Trainern fällt der 64-Jährige auch heute auf. Mit stoischer Miene steht er im Trubel und verfolgt, wie Ashima in die Höhe steigt, als wäre es das einfachste der Welt, als würde sie nicht klettern, sondern tanzen. Sein Haar ist immer noch gebleicht, Poppo glaubt an die Wirkung von Farben. Weissblond bedeute «make diamond from garbage». So einen Diamanten wollte er auch aus der Tochter machen, die im Bouldern talentierter war als er im Butoh. Er war für die Erziehung zuständig, Miko arbeitete lieber. Von da an soll es am Rat Rock viel Geschrei und Tränen gegeben haben. Wenn die Kleine lieber spielen wollte und der Vater befahl: «Climb!»

«To easy» sagt Poppo nun, als seine Tochter in müheloser Eleganz die Qualifikation abschliesst, «Ashima must study». Während ihre Konkurrentinnen nun die Älteren anfeuern, fahren wir ins Boulder-Gym am Stadtrand, Training. Bei Ashima ist ohnehin alles anders. Bis auf Brooke Raboutou, ewige Zweite hinter Ashima, haben alle Eltern und Trainer. Brookes Mutter Robyn Erbesfield, selbst mehrfache Weltmeisterin, coacht hier jedoch mehrere Athleten. Ihre Tochter ist eine von vielen. Wie andere Teams reisen sie als Rasselbande an und tragen dieselben Hoodies. Man erkennt den Clan von Weitem als orange Tupfer im Pulk von Leuten. Und natürlich ist es auch ein Fest, wenn diese grosse Familie an Wettkämpfen zusammenkommt. Nur Shiraishis stehen immer abseits.

Sie reden kaum. Sie antworten knapp, wenn andere mit «How are you?» zum Smalltalk ansetzen. Auch Miko und Poppo wechseln kaum ein Wort, das Ehepaar sitzt im Publikum nicht einmal nebeneinander und Miko tippelt immer ein paar Meter hinterher, wenn Poppo auf die Tochter einredet. Und Ashima? Sagt gar nichts. Am ersten Tag behandelt sie mich wie Luft. Am zweiten lächelt sie einmal. Am dritten sagt sie «Hi» und am vierten redet sie ein bisschen und klingt dabei wie eine Erwachsene.

Zuerst dachte ich, das habe mit unserem Deal zu tun: «Don’t disturb Ashima’s nerve. After you can ask in New York». So lautete die Bedingung, die Shiraishis hierher zu begleiten. Hinter Ashimas Fassade aus Stahl und Perfektion soll aber auch ein aussergewöhnlich schüchternes Mädchen stecken. Letztlich ist ihre geistige Isolation jedoch Teil von Poppos Kernphilosophie aus dem Butoh: Die Verbindung von mentaler und physischer Stärke. «Talking very bad, must focus».

Die Ernsthaftigkeit wird mir bewusst, als er im Gym Übungen zeigt. Sie sollen Ashima stoisch machen und ihren Bauch, das Zentrum, stärken. Zuerst krümmt er sich, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen verpasst, dann zieht er die Arme hoch wie ein Vogel beim Abheben. Die Gaffer verkneifen sich das lachen, dabei ist das kein Spass. Poppo ist so konzentriert, dass ihm Ashimas Rückkehr aus der Umkleide entgeht. «She waiting» schreit Miko mit ihrem Zeigefinger: «Must not talk during practice!»

So etwas wie eine Diskussion entsteht zum ersten Mal auf der Rückfahrt ins Hotel. Die drei reden zwar japanisch, aber es geht um «Indian» oder «Italian» – das Abendessen. Ashima wünscht indisch. Sie liebt essen. Kochen ist das Einzige, wofür sie Zeit hat, nachts, nach dem Training und den Hausaufgaben. Am liebsten backt sie Kürbiskuchen, es entspannt sie. Nur bringt das ein Problem mit sich: Ihr Erfolg hängt auch vom Kraft-Last-Verhältnis ab. Das erklärt, warum viele Kletterer wie Hungerhaken aussehen. Einfach gesagt: Je weniger Kilos, desto leichter der Kampf gegen die Schwerkraft. Darum hängt in der Küche der Shiraishis dieser Zettel: Mai 2015, Grösse 1.55 m, Gewicht 45 kg. Das war vier Monate vor der Weltmeisterschaft. Danach war Ashima acht Kilo leichter. Heute ist sie 1 Meter 56 gross und 40 Kilo schwer. Gibt man die Zahlen in einen BMI-Rechner ein, spuckt das Netz Untergewicht heraus. Ist das nicht zu leicht? Nein, sagt Poppo, «no food, mental very focus». Er habe vor seinen Aufführungen eine Woche lang gehungert. Zum Abendessen gibt es japanisch.

Wieviel dürfen Eltern Kindern zumuten? Wie viel Drill muss sein, und wie viel ist zu viel? Die Shiraishis lösen hier ähnliche Debatten aus wie vor ein paar Jahren «Tiger Mom» Amy Chua. Die Asiatin schockte mit ihrem knallharten Erziehungsbuch Eltern im wattierten Westen. Aber auch Robyn Erbesfield, Mutter von Ashimas Konkurrentin Brooke, sagt: «Auf 37 Kilo runterhungern, das ist krank». Sie ist keine dieser Latte-Macchiato-Mütter, und es klingt auch nicht nach verletztem Stolz. Als ehemalige Spitzenathletin weiss sie, was kein Spass mehr ist. Das Wichtigste, das sie Brooke mitgeben will, ist: «Du kletterst am besten, wenn du Freude hast».

Darum fürchten nun sogar Ashimas Sponsoren, deren Vertreter hier an den Ständen stehen. «Wir machen uns Sorgen» sagt einer, der anonym bleiben muss. Wer lärmt, wird aussortiert. So sei es mit Yuki gewesen und später mit Obe, der bis vor drei Jahren Ashimas Coach war. «Wir versuchen subtil Einfluss zu nehmen» sagt er, aber wie? Ashima ist so gut wie nie allein. Es ist der Albtraum jedes rebellierenden Teenagers: In den letzten vier Jahren ist sie an keiner Geburtstagsparty mehr gewesen. Zuhause teilt sie das Zimmer mit Miko, im Kajütenbett schläft sie unten, die Mutter oben. Poppo massiert sie, frisiert sie, trainiert sie und wählt sogar aus, was die bald 15-Jährige anzieht.

Ashima 2

Im Final trägt Ashima ein schwarzes Top und Shorts mit asiatischem Blumenprint. Poppo sagt, dass Blumen beruhigen. Schwarz stehe für das Ende, den Abschluss, den Sieg. Die Favoritinnen starten als Letzte, erst Brooke, dann Ashima. Den ersten Durchgang klettern beide mühelos. Im zweiten fällt Brooke schon an der ersten Kante. «Come on Brooke!» ruft der Moderator und die Zuschauer schreien. Jetzt schafft sie es, fällt aber weiter oben noch zweimal, ein Raunen der Enttäuschung geht durch die Reihen.

Aber auch Ashima hat an dieser Stelle Mühe, dabei fehlen zum Topgriff doch nur Zentimeter. Sie fällt! Zum ersten Mal in drei Tagen! Es wird ganz still im Monona Terrace. Ashima schaut hinauf, als könnte sie es nicht glauben. Dann setzt sie nochmal an und schafft es. Natürlich. Am Ende es ist wie immer: Ashima gewinnt. Brooke ist Zweite.

«Two years ago Ashima little bit refuse climbing», sagt Miko. Sie wollte an den Strand oder in die Ferien, was Teenager in diesem Alter so tun. Dann erklärten die Eltern, dass sie nun die Wahl habe: Zwischen einer Zukunft voller Licht und dem grauen Alltag, den wir alle kennen. Dieses sich durchbeissen, nie nie nie aufgeben, das sei «the Japanese way.» Das ist der Unterschied zwischen Brooke und Ashima, Topklasse und Sensation, Unglück und Glück. Oder umgekehrt. «Now she understand».

Und Ashima? Ist Profi genug, nicht zu bestätigen, was viele denken: Dass die Geschichte ihres Erfolges auch eine traurige ist. Sie sagt: «Ich lebe meinen Traum. Meine Eltern sind meine besten Freunde». Die Krise vor zwei Jahren? Die Laune einer Pubertierenden, nichts weiter. «Ich wünschte nur, dass sich meine Mutter mehr für mich und das Klettern interessieren würde. Meine grösste Angst ist zu fallen und zu scheitern – nicht zu tun, was von mir erwartet wird».