Unser Everest

Das Magazin, 10. März 2015
Fotos von Bruno Augsburger
Das Matterhorn ist kein Disneyland, mahnt Kurt Lauber. Der Chef der Hörnlihütte fordert weniger Zirkus und mehr Demut, das seien wir dem Berg schuldig.

Am 14. Juli darf kein Mensch aufs Matterhorn, nicht einmal Kurt Lauber. Dabei hätte es zur Feier von 150 Jahren Erstbesteigung kühnste Ideen gegeben: Prinz Harry auf dem Gipfel. Ein Hochseilakt zwischen Matterhorn und Klein-Matterhorn. Ein Spektakel. Aber es wird auf 4478 Metern kein Gipfelfeuer geben und nicht einmal Raketen. Im Gegenteil. Was wie ein Aprilscherz klingt, hat Strategie: Der Berg wird gesperrt.

«Man muss ihn vor sich selbst schützen» sagt der Zermatter, der diese Ikone von Zacken besser kennt als jeder andere: Kurt Lauber, 53, Bergführer, Bergretter und seit 20 Jahren Chef der Hörnlihütte. Gegen 400 Mal ist er von da schon auf den Gipfel gestiegen und hat über 1000 Rettungseinsätze geleitet. Jetzt stapfen wir durch den Frühlingsschnee, Tourenskis geschultert, Schritt für Schritt diesen 1.6 Milliarden Kubikmeter Fels, Eis und Schnee entgegen, diesem Architekturwunder der Natur.

Lauber hat das Gewusel von Skitouristen hinter sich gelassen, das Tal, in dem die Vorbereitungen für das Jubiläum auf Hochtouren laufen. Freilichtspiele, Dokumentarfilm, Jubiläums-Song, Jubiläums-Swatch, Jubiläums-Kollektion. Auch der Mann mit dem kernigen Gesicht leistet mit seinem zweiten Buch «Matterhorn. Bergführer erzählen» einen Beitrag zur brüllenden Vermarktung. «Der Tourismus braucht das», sagt er, während wir von oben auf die Hotels blicken, in denen trotz Postkartenwetter anfangs März zum ersten mal wieder Zimmer frei sind.

Im Sommer schafft es Lauber in 50 Minuten von der Bahn zur Hörnlihütte während normale Wanderer bis zu zwei Stunden brauchen. Jetzt ist es «bitz blöd», weil der Weg unter Schneebergen begraben liegt. «Wenn es dumm geht, kann man hier zu Tode stürzen». Weiter gehts drum angeseilt. Rechts die Felsen des Hirligrats, links ein steiler Abhang, an dem auch Edward Whymper lang gegangen sein könnte.

Damals, an diesem 14. Juli 1865, als seine Seilschaft den letzten unbezwungenen Viertausender der Alpen schaffte. Beim Abstieg stürzten vier von sieben Männern zu Tode. Hat der Bergführer ein zu dünnes Seil gewählt? Oder Whymper es zerschnitten? Das schreckliche Geheimnis faszinierte die Welt. Und Queen Victoria wollte den Alpinismus gar verbieten.

«So hat der Run begonnen» sagt Lauber, dessen Vorfahren noch arme Bauern waren. Alle kamen, um den verbotenen Berg zu sehen und nie mehr zu vergessen. Weil er unverkennbar ist. Simpel und magisch zugleich, «als hätte ihn ein Kind gezeichnet». Mit den Fremden kam das Geld und mit dem Geld konnten die Zermatter die Mistgabeln in die Ecke stellen. Inzwischen gibt es das Matterhorn ebenso als Toblerone-Schokolade wie auf der Schachtel von jamaikanischen Menthol-Zigaretten. Es ist eine globale Marke. Wie der Everest aussieht, weiss hingegen kaum einer.

Lauber zieht andere Parallelen zum höchsten Berg der Welt: Als der gelernte Maschinenmechaniker in den Achtzigern als Bergführer anfing, war am Matterhorn «Mord und Totschlag». In einem Sommer sind 18 Menschen zu Tode gestürzt, bis heute sind mehr als 500 verunglückt. Weil Hobby-Alpinisten ohne Bergführer zum Gipfel aufbrechen. «Die Sherpas kennen den Everest, wir das Matterhorn. Fremde sollten sich anpassen. Aber an den gesunden Menschenverstand zu appellieren, lohnt sich schon lange nicht mehr.»

Dabei zähle das «Horu» zu den schwierigsten Viertausendern der Alpen. Das Wetter, die Routenfindung, die Steinschlaggefahr. Ein Hauch davon ist auch heute zu spüren, auf dem Gittersteg am Felsen: Die Tragelemente fehlen, ein Stein hat sie mit in den Abhang gerissen. «Das kann immer passieren», sagt Lauber und klettert den Kanten entlang, mit der Gelassenheit des Bergretters, der immer wieder Arme oder Därme eingesammelt hat. Dabei hat ihn der Berg «geformt». «Hochmut, Fehlentscheidung, Achtlosigkeit – Zack, hat es dich, er bestraft sofort.» Ehrlich, aber gnadenlos.

Kurt_Lauber_2

Inzwischen brechen die meisten mit Bergführer auf. Das andere Problem ist geblieben: Zu viele Leute. Pro Saison steigen um die 3000 Leute auf den Gipfel. An einem Tag bis zu 300. Wie am Everest gibt es Stau, Streit, Unfälle. Dann diese «Disneylandisierung». Einmal wurde für die Sendung «Verstehen Sie Spass?» ein Kiosk in die Wand geflogen. Der grösste «Fluch» seien jedoch nicht die Luxustouristen, sondern die Camper, die überall ihr Geschäft verrichten und Müll liegen lassen. «Wenig Geld gleich schlechte Ausrüstung, keine Erfahrung, kein Bergführer, viele Unfälle.»

Hirli, 2889 Meter. Von hier aus ist das Matterhorn zum Greifen nah und doch in wilder Ferne. Man kann die Hörnlihütte sehen, wo Lauber im Sommer Hüttenwart ist und im Winter kaum einer aufsteigt. Zu gefährlich. Die Hütte wird zum Jubiläum umgebaut. 130 statt 170 Schlafplätze, die Nacht wird 150 Franken statt 80 kosten und Camper werden von Helikopter-Polizisten gebüsst. Überhaupt soll von nun an alles anders werden, weniger Zirkus, mehr Ursprung: Aktivitäten müssen vom Gemeinderat bewilligt werden. Wenn einer wieder ein Auto auf seinen Gipfel setzen will etwa oder «weiss der Gugger» was.

«Das sind wir dem Horu schuldig» sagt Lauber. Es ist sein Wunsch gewesen, am Jubiläumstag nur die Hütte einzuweihen und den Berg zu sperren. Er blickt die Wände hinauf, die ihn an die Grausamkeit der Natur erinnern. Und trotzdem sagt der sonst so pragmatische Lauber diesen Satz: der Berg habe für ihn so etwas wie eine Seele. Wenn er bei Sonnenaufgang auf der Hütten-Terrasse steht, umgeben von 28 Viertausendern und Unendlichkeit. Dann fühlt er sich eins mit sich und seinem Berg. «Er hat es immer gut gemeint mit mir.»