Willkommen in Twin Peaks

Annabelle, 8. Juni 2016
Fotos von Bruno Augsburger
Seit Regisseur David Lynch eine dritte Staffel von «Twin Peaks» dreht, reisen noch mehr Fans der Kultserie in den Pazifischen Nordwesten. Die Einheimischen nennen sie «Aliens».

Josh Eisenstadt hat zwei Leben. Ein gutes und ein schlechtes, ein helles und ein dunkles. Und manchmal weiss er selbst nicht mehr genau, in welchem er gerade ist.

Sein erstes Leben spielt unter der kalifornischen Sonne, in Los Angeles, wo er für eine Filmproduktionsfirma arbeitet. Fünf Tage die Woche macht er nichts anderes als Drehbewilligungen einzuholen. Es füllt das Konto des Vierzigjährigen, sein Leben aber nicht mit Bedeutung. Josh hat Grösseres im Sinn: ein berühmter Regisseur will er werden. Sein neuster Film heisst «Spreading Darkness» – der Trailer hat auf Youtube 915 Klicks.

Josh zweites Leben spielt im Nordwesten der USA, in den dunklen Wäldern Washingtons, dem Evergreen State. Tannen und Zedern, viel Moos, viel Nebel. Es sind die Wälder seiner Lieblingsserie «Twin Peaks» aus den frühen Neunzigerjahren: Wälder, in der es keine Zukunft und keine Vergangenheit gibt, nur das modrige Jetzt: Eine schöne, junge Frau. Tot. Nackt. Eingewickelt in Plastikfolie. So kündet sich eine der dunkelsten Geheimnisse der Fernsehgeschichte an: Wer ermordete Laura Palmer?

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«Da unten im Fluss, genau da filmten sie die Szene mit der ersten Leiche» ruft Josh, während die anderen Fans hinter ihm her stolpern. Auch Laura starb im Wald und wurde im Wasser gefunden. «Kein Zufall» sagt er und hält inne: «Erinnert ihr Euch an die Worte von Sheriff Truman in der dritten Episode? Da ist etwas Böses, da draussen, etwas sehr, sehr Seltsames in diesen finsteren, alten Wäldern».

Keiner kennt sich so gut aus wie Josh. Er sieht ein bisschen aus wie der Filmemacher Quentin Tarantino mit der zu hohen Stirn und dem zu schiefen Mund. Er ist der Guru aller Fans oder der grösste Fan aller Zeiten. Er weiss, warum die Eulen in Twin Peaks nicht sind, was sie scheinen, oder warum sich die Dualität bis in die Zwillingsgipfel durchzieht, den White Tail und den Blue Pine Mountain. Jetzt er erklärt er die Leichenszene bis in alle Kamerapositionen und ruft Dialoge ab, als hätte er einen Teleprompter im Kopf. Die Szene ist so absurd wie die berühmte Fernsehserie von David Lynch, die man immer wieder schauen kann und doch nie versteht: Es regnet, es ist viel zu kalt für Juli, trotzdem stapfen im Olallie State Park mehr als 300 Fans über Wurzen und Totholz. Sie wollen sehen, wo Lynch, der grosse Surrealist des amerikanischen Kinos, «Twin Peaks»-Szenen drehte und das Serien-Genre zur Kunstform erhob. Vorher gab es im amerikanischen Fernsehen nur schnell abgedrehte Fliessbandproduktionen wie «Dallas» oder «Miami Vice». «Twin Peaks» dagegen wurde als bizarre Mischung aus Krimi, Melodram, Märchen, und Seifenoper zur Blaupause für Serien, wie wir sie heute kennen. Viele sind fast schon wie Literatur.

Seit 1990 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, reisen Fans wie Josh aus allen Ecken der Welt nach Seattle. Von da 40 Autominuten weiter in die ehemaligen Holzfällerstädtchen North Bend, Snoqualmie und Fall City – den Kulissen zur fiktiven Ortschaft «Twin Peaks», 300 Festivalbesucher sind es diesen Sommer, soviele wie noch nie seit der Gründung 1992. Das hat mit einer Sensation zu tun, auf die «Twin Peaks»-Fans ein Vierteljahrhundert gewartet haben: David Lynch dreht eine dritte Staffel. 2017 soll sie anlaufen, und viele der alten Bekannten sind wieder dabei. Kyle MacLachlan als FBI-Agent Dale Cooper oder Sheryl Lee als Laura Palmer… «Twin Peaks», die Mutter aller Serien, kommt zurück.

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Am ersten Festivaltag stellt Josh am Wissenswettbewerb Fragen wie: «Was fiel FBI Agent Cooper hier als Erstes auf?» Die Bäume. Oder «Welchen Buchstaben fand er unter Lauras Nagel?» Ein B. Am zweiten Tag leitet er Touren zu Drehorten wie dem ikonischen Wasserfall aus dem Vorspann, wo die nächste Tote auftaucht. Und am dritten Tag lacht er mit den B-Prominenten aus der Show, während sich die Fans am «Costume Contest» Eulenmasken aufsetzen oder Holzscheiter in den Armen halten. Dabei filmen ihn die anderen Fans mit ihren Smartphones, als wäre auch Josh ein berühmter Regisseur. Und heute, am letzten Abend, will er tun, was nicht im offiziellen Festivalprogramm steht: Irgendwo da draussen, wo Snoqualmie aufhört und der Wald beginnt, wo die Ruinen des Sägewerks als Umrisse im Dunkeln zu sehen sind und eine andere, verstörende Szene gedreht wurde, da wollen sich er und seine Freunde noch einmal wild fühlen wie die Helden ihrer Lieblingsserie.

Auf Satellitenbildern sehen diese Wälder aus wie grüne Fransen am westlichen Rand des Kontinents. Sie prägen den Pazifischen Nordwesten, wo sich früher alles um «Big Timber» drehte, das Geschäft mit den dicken Stämmen. Auf Fotos im Museum von North Bend sehen auch die kräftigsten Kerle davor wie Winzlinge aus. Viele von ihnen sind nie mehr aus dieser Wildnis zurückgekehrt. Und obwohl die Holzfällerei kein Geschäft mehr ist, gehen in den Wäldern immer wieder Menschen verloren. Es gibt die Legende vom Menschenaffen Bigfoot. Es heisst zudem, dass diese Landschaft «etwas mit einem macht»: Ted Bundy, einer der berüchtigsten Massenmörder der USA, hat hier gelebt. Und ein anderer Wahnsinniger, der «Green River Killer», hat Frauenleichen am Stadtrand von North Bend verscharrt.

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Es ist nach zehn Uhr abends und Josh und seine Entourage sitzen in der «Salish Lodge» – dem «Great Northern» aus der Serie. Sie trinken sich in Stimmung, der Cocktail aus Gin und Honig heisst Dale Cooper. Man redet über die neue Staffel, was denn sonst. «Leute, wisst ihr was?» ruft Josh «ich organisiere ein Dinner in LA. Das hilft gegen PFD». Die anderen jubeln und prosten ihm zu. PFD ist die Abkürzung für «Post Festival Depression». So nennen sie den dumpfen Zustand, der sich nach dem Festival in ihren Alltag schleicht. «Am schlimmsten sind die ersten Tage danach, stimmts?» sagt Josh zu den Frauen, die in ihren engen Petticoats wie Pin-up-Models aussehen.

Josh ist in einem noblen Stadtteil von Los Angeles aufgewachsen. Dort sieht es anders aus, als in Nestern wie diesen hier, wo Pickups durch die Strassen wummern, vorbei an schmucken Häuschen mit US-Flaggen, Burgerläden, Tankstellen, Waffenshops. Propere Kleinstadtfassaden, hinter denen der Wahnsinn Amerikas lauert. «Twin Peaks» thematisierte all seine Facetten, von der Drogensucht über die Prostitution bis zu sexuellem Missbrauch. Darum war die Show für Teenager Tabu. Joshs Eltern konnten es ihrem einzigen Kind jedoch nicht verbieten. Er durfte die anderen sogar zu «Twin Peaks»-Sessions einladen. Seither stand er nie mehr abseits, sondern mittendrinn.

«Vielleicht», sagt er und nimmt einen Schluck von seinem Cocktail, «muss ich in zu Hause in LA sowieso alles aufgeben». Das Filmbusiness ist knallhart und das Leben teuer. Falls sein Film «Spreading Darkness» kein Erfolg wird, kann er hier oben «Twin Peaks»-Touren anbieten und ein Museum mit seiner Requisitensammlung eröffnen. Denn hier ist sein zweites «Zuhause». Und die Leute in dieser Runde sind seine «Familie»: Freaks und Andersdenke wie er. Fragt man sie, was sie im richtigen Leben tun, erzählen sie von kreativen Berufen in Musik oder Film. Davon leben können aber die Wenigsten. «Twin Peaks», das ist ihr Sehnsuchtsort jenseits vom grauem Alltag. Die Männer fasziniert das Gesamtkunstwerk, die Frauen identifizieren sich mit den zerrissenen Figuren. Mary zum Beispiel: Ihr Vater ist am selben Tag gestorben wie Laura Palmer. «Twin Peaks» hat ihr geholfen zu trauern und mit den schwierigen Gefühlen der Pubertät zurechtzukommen. Maria ist missbraucht worden wie Laura und taucht seither ins Dunkel von Horrorfilmen oder Goth-Musik, als gingen darin ihre eigenen schwarzen Flecken vergessen.

Das wollen sie auch heute Nacht. Einen Dale Cooper noch, bis sie in die Autos steigen und hinaus in die Nacht fahren. Weit ist es nicht, zehn Minuten nur. Flüstern am Waldrand, Taschenlichter in der Finsternis. Ein Feldweg führt den Hügel hinauf, wo Regisseur David Lynch die Halskette der toten Laura vergraben und in einer unheimlichen Szene wieder ausbuddeln liess. Jedes Jahr macht Josh mit ein paar Leuten Nachttouren, «inoffiziell», während die meisten Festivalteilnehmer längst in ihren Betten liegen. Dabei sind diese Ausflüge nicht ganz ungefährlich: Einmal drehte ein Fan durch und zückte ein Messer. Einmal versuchte ein Anwohner, die Gruppe mit seinem Traktor zu überfahren, weil er genug hatte von den «durchgeknallten Leuten» auf seinem Land. Und einmal fielen Schüsse. Josh nennt das «die volle Atmosphäre spüren».

Bei den Einheimischen hält sich die «Twin Peaks»-Euphorie in Grenzen. Viele haben die Serie nie gesehen und wissen auch nicht, dass hier jedes Jahr ein Festival stattfindet. Das Fremdenverkehrsamt setzt lieber auf die Natur und die unendlichen Wandermöglichkeiten, als dass es den Hollywoodtrumpf ausschlachtet. Offizielle Führungen oder eine Karte zu den Drehorten gibt es nur während der kurzen Festivalzeit von drei Tagen. Einzig im Geschenkladen an der Hauptstrasse von North Bend werden nebst Bigfoot-Stofftieren oder asiatischen Teelichtern ein paar «Twin Peaks»-Tassen verkauft.

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«Twin Peaks?» sagen die alten Holzfäller ein paar Häuser weiter und zucken mit den Schultern. «Doofe Show, schade für die Zeit». Deswegen kommen sie nicht jeden Morgen ins Twede’s Café alias Double R Diner, die Männer, die Dean, Hoallies oder Chuck heissen und Hosenträger tragen. Sie kommen auch nicht, weil der Kaffee hier verdammt gut ist. Er ist dünn und wässrig, wie überall in der amerikanischen Pampa. Dafür kostet er nur 1.80 die Tasse. Einer von ihnen war damals Statist, als FBI-Agent Cooper alias Kyle MacLachlan hier vor laufender Kamera Kirschkuchen ass. Er sagt, dass es noch langweiliger gewesen sei als zuhause. Den ganzen Tag musste er auf seinen Einsatz warten. Und als es endlich soweit war, liessen die ihn in ein Sandwich ohne Mayonnaise beissen, immer und immer wieder. Wenigstens Mayonnaise hätten sie reintun können, wenigstens das.

Lieber reden die Männer von den guten alten Zeiten, in denen sie die Wälder kahl rasierten. Damals arbeiteten sie für «Lumber Companys», Holzfällerunternehmen, die eigene Schulen und Spitäler hatten. Im Lebensmittelgeschäft kannte jeder jeden. Sie konnten die Dinge anschreiben lassen. Inzwischen ist der Boden hier mehr wert als Holz. Das nahe gelegene Seattle wächst und wächst. Zudem sind Riesenfirmen wie Amazon in die Gegend gezogen. Mit ihnen kamen die Überbauungen, die Staus und die Anonymität. Bald ist hier «Little Bellevue», seufzen die Oldtimers und meinen damit den Vorort von Seattle. Neuzuzüger nennen sie «Transplantate». Und die «Twin Peaks»-Fans? «Das sind Aliens».

Und die stapfen nun durch die Nacht und leuchten mit ihren Lampen in den Wald. «Hier irgendwo» sagt Josh und bleibt stehen, wo ihm das Gras nicht mehr bis zu den Knien reicht. «Hier irgendwo müsste die Erde aufgeraut sein und ein flacher Stein liegen». Genauso haben andere «Aliens» diese Stelle beschrieben, an der sie vor ein paar Tagen eine Halskette vergraben haben. Nach einer Weile finden sie den Stein und Josh bohrt mit einem Stock in die Erde. Nichts. Er gräbt weiter, bis ihm Schweissperlen an der Stirn kleben. Immer noch nichts. Die Kette ist verschwunden.