Wir Abfallweltmeister

NZZ, 11. Dezember 2015
Fotos von Karin Hofer
Die Schweizer produzieren im internationalen Vergleich mit am meisten Abfall. Insbesondere in der Weihnachtszeit wird mit beiden Händen weggeworfen.

Früher hat es Tomi noch weh getan. Als er für einen Kinderwagen sparte und dasselbe Modell plötzlich in einem seiner Container lag. Manchmal fragte er im Büro nach, ob er eine Pfanne retten könnte oder auch nur ein Holzstück, um sein Häuschen zu reparieren. Nun kümmert es auch ihn nicht mehr, was seine Kunden alles wegwerfen: das Waschpulver in den Sondermüll, «Harry Potter» in die Büchertonne, den Flachbildschirm auf den Elektronikhaufen, den Bürostuhl in den Schredder. Die halbe Grundausstattung eines Schweizer Lebens – weg damit.

Ein Samstagmorgen in der Vorweihnachtszeit, Maag Recycling, Winterthur. Hier arbeitet Tomislav Sosic, kurz Tomi, ein kleiner, freundlicher Mann, seit 19 Jahren. Hier hat er sich zum Chef von sieben Recyclisten hochgearbeitet, die in der Früh ihre Positionen an der Waage oder den Containern beziehen. Sie wissen: Wenn die Tore aufgehen, ist in dieser Halle bald die Hölle los: Die ersten Kunden steuern nach sieben in die Werkhofstrasse. Gegen neun füllt sich der Parkplatz. Und ab zehn versuchen wie bei Ikea Securitasleute den Ansturm von Autos und Menschen zu bewältigen. Letztere schieben vollbeladene Einkaufswagen in die Halle. Sie drängeln, sie stehen an, nur wollen sie gar nichts kaufen, sondern alles loswerden. Ein Bild der Perversion, ein Bild des Glücks. Und darin ist auch schon alles enthalten: Der Welt gehen die Ressourcen aus, und wir werfen sie wieder weg.

729 Kilo. So viel Siedlungsabfall produziert jeder Schweizer laut dem Bundesamt für Umwelt jährlich. Mehr als doppelt so viel wie noch vor 20 Jahren. So viel wie noch nie.

Damit gehören wir zu den Abfallweltmeistern. Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass die Bewohner der OECD-Staaten im Schnitt 483 Kilo anhäufen. Am meisten machen die Dänen, die Amerikaner und die Schweizer. Landesweit fallen rund 6 Millionen Tonnen jährlich an. 60 000 davon landen bei Maag Recycling, im Werkhof oder hier im Recy-Hof, wo sich die Container hufeisenförmig aneinanderreihen – 44 Abfalltypen insgesamt, Tonne an Tonne, Haufen an Haufen.

«Die Leute kaufen halt immer wieder Neues», sagt Tomi, während er sie zu den Containern dirigiert. Die Arbeit im Recycling-Betrieb hat den Rücken des 42-Jährigen gerundet und ihn gleichgültiger gemacht. Bei Umzügen komme alles weg, egal, ob man es noch brauchen könnte. Ebenso in der Weihnachtszeit und um Ostern, dann ist Hochbetrieb, dann kommen 2000 Leute pro Tag.

Dass man «mindestens ein Drittel der Ware» noch brauchen könnte, findet Tomi nicht aussergewöhnlich. Der vorbeirollende Rucksack – auch nicht aus dem Rahmen fallend. Gartenstühle, Schuhgestelle, Tennisschläger, ein Sofa, Geschenkpapier. Etwas Besonderes dabei? «Nein», sagt Tomi. «Ein bisschen speziell» sei, dass jetzt hier auch brandneue Werbegeschenke landeten, stapelweise Shirts, Rucksäcke, Kaffeetassen.

Und so türmt sich der Wohlstand. Hohe Löhne am Ende des Monats, Geld für Shoppingmeilen und Einkaufszentren, Habenwollen und Wiederloswerdenmüssen. Müllberge wachsen mit dem Konsum und sind Spiegel der Gesellschaft. Sie zeigen, dass sich neue Ideen wie Sharing-Economy oder Zero-Waste-Bewegung nicht in den Statistiken niederschlagen. Der Abfallforscher Bernd Bilitewski kann noch mehr daraus lesen: Wenig Verpackungen erzählen von Wohlhabenden, die viel Frisches einkaufen. An vielen Inkontinenzwindeln ist abzulesen, dass die Menschen immer älter werden. Tonnen von Plastic zeigen den Wandel der Esskultur, weg vom Mittagessen, hin zu Tempo und Take-away.

Was Menschen wegwerfen, sagt auch viel darüber aus, was ihnen die Dinge wert sind. Früher wurden Kinder vor ein und demselben Fernseher zu Teenagern, und Eltern bekamen die ersten grauen Haare. Sie rückten zusammen, wenn die Welt ins Wohnzimmer kam, oder stritten sich um die Fernbedienung. Heute sind Fernseher ein bisschen wie Zombies, kaum am Laufen, schon wieder halbtot, zu langsam, zu wenig neu, zu teuer die Reparatur – in den Container damit.

Die Menschen im Recy-Hof beseitigen an diesem Morgen Wagenladungen von Sachen, die auf Ricardo bestimmt keine Ladenhüter wären und in den Brockenhäusern schon gar nicht. Reden möchten sie lieber nicht. Keine Zeit, sagen sie, und heben entschuldigend die Hände. Bis auf ein paar wenige: Nadja und Renato Malnati wollen einen Rollkoffer loswerden, der Reissverschluss der Aussentasche ist kaputt, da könnte ja jemand etwas hineinstecken, «eine Bombe oder so». Sarah Goricanec und Jose Luis dumpen eine Stereoanlage. «Die funktioniert zwar noch, ist aber zu gross. Ans Brockenhaus haben wir gar nicht gedacht.» Devrim Toramans Kinder haben «viel zu viel» Spielzeug. «Was weg muss, muss weg», sagt sie und deponiert einen Riesenstofftiger neben der Papiertonne, «nun haben wir wieder Platz».

Es ist ein bisschen wie im alten Rom, ausser dass man damals nicht viel mehr als den Nachttopfinhalt aus dem Fenster kippen konnte. Die bequeme Form der Entsorgung hat sich lange gehalten. Ein Glück für Schweine und Hunde, die sich als eine Art mittelalterliche Kehrichtabfuhr durch die Strassen frassen. Später wurde bis auf Knochen oder Lumpen alles vor den Stadtmauern entsorgt. Dumping auf dem Acker, ganz legal.

Mit der Industrialisierung wuchsen die Städte, Abfälle wurden chemischer. Gestank, Ratten, Krankheiten. Man hob Gruben aus, richtete Deponien ein. 1904 startete die Kehrichtverbrennung an der Zürcher Josefstrasse als vierte Europas ihren Betrieb. Hier schüttelte Gustav Maag die Müllsäcke, bevor er sie in den Ofen warf. Was schepperte, wurde verkauft. Bis er 1942 die Idee hatte, Ross und Wagen zu kaufen und als Schrottsammler herumzuziehen – der Anfang der Firma Maag.

«Wohin mit dem Regal?», fragt ein Kunde. «Auf die Waage», sagt Tomi, «Holz ist nicht gratis.» «Was? Dafür muss man auch noch zahlen?» – «Nur 40 Rappen pro Kilo.» Der Mann stapft ohne Dank davon. Tomi zuckt mit den Schultern, so sind sie halt, die Leute.

Maag-Recyclinganlage in Winterthur Chef Recycling-Hof Tomislav Sosic

Tomi war 23, als er wie sein Vater Drago bei Maag anfing. Das älteste von drei Geschwistern, 1991 aus Jugoslawien geflohen. Ein junger Mann, der langsam lernte, dass Abfall vom Umwelt- zum Ressourcenproblem wurde und Recycling ein Geschäft.

Tomi kaufte den Sanitärinstallateuren im Werkhof Messing ab und den Heizungsmonteuren Kupfer. Er sah, wie in der Nachbarschaft die Schornsteine zu rauchen aufhörten und Produktionen ins Ausland abwanderten. Er sah auch, dass Hausabfälle auf einmal Wertstoffe waren. Lange wurde nebst Metallen vor allem Papier oder Holz gesammelt, mit den Jahren kamen aber immer mehr PET oder Elektroschrott dazu. Aus der Max Maag AG Industrieabfälle wurde die Max Maag AG Wertstoffrecycling und noch später die Maag Recycling AG. Zwei Namensänderungen, eine Zeitenwende.

Und so streicht Tomi heute manchmal wie ein Undercover-Polizist durch den Recy-Hof, observiert das Treiben, lugt hinter Tonnen hervor. «Jetzt», flüstert er und deutet mit einer Kinnbewegung auf zwei Frauen, die gerade einen Koffer in die Halle schleppen. Tomi tut so, als würde er nicht ahnen, was als Nächstes passiert. Und tatsächlich: Bei den Kleidertonnen angekommen, öffnen die Damen den Koffer, rollen eine Gummimatte in einen Vorhang und stopfen die Wurst seelenruhig in den Klamottensack.

Dabei hängen am Eingang Schilder, auf dem grünen ist aufgelistet, was gratis entsorgt werden kann, und auf dem roten alles Kostenpflichtige. Auch die Tonnen sind angeschrieben. Über dem Alu-Container baumeln Dosen und über der Büroelektronik Bildschirme, wobei auch dieses idiotensichere System anfällig ist. «Hier kommt nur Textil rein», stoppt Tomi die beiden Damen. «Und den Koffer müssen Sie wägen und fürs Gewicht bezahlen.»

Jagd auf Aballsünder

Es sind Szenen, die Tomi mit dem Satz «Es gibt zum Teil Leute» einleitet. Man kann diese Leute in Typen einteilen. Tomi weiss, dass die Gewissenhaften es ja richtig machen wollen, aber Recycling ist kompliziert geworden: Polyethylen oder Polypropylen zum Beispiel. Um die zu unterscheiden, müsste man die PE- oder PP-Zeichen mit den Schildern abgleichen, womit wir bei den Faulen wären. Nur ist Tomi nicht sicher, ob tatsächlich nur Faulheit dahintersteckt, wenn er Stofftiere zwischen den Fernsehern findet oder Pneus im Karton. Sicher ist, dass er «permanent» Dinge aus den Tonnen fischen muss, die da nicht hingehören.

Davon erzählen auch die Zürcher Abfalldetektive, die tagein, tagaus allen unmöglichen Plunder aufspüren, vom toten Hasen bis zum Maschinengewehr. Ihre Mission: Kehrichtsünder jagen, die ihre prallgefüllten Gratissäcke in Nachbars Tonne entsorgen. Andere packen ihren Unrat in Säckchen ab, die in die schmalen Schlitze der öffentlichen Kübel passen. Wieder andere transportieren illegalen Kehricht systematisch von einem Quartier ins andere.

Menschen lügen, Müll hingegen nicht. Aus dieser Tatsache ist eine Forschungsdisziplin entstanden: Garbologie. Man könnte auch von der Wissenschaft der Wahrheit sprechen. Aus dem Abfall von Martin Luthers Familie zum Beispiel haben Archäologen die Erkenntnis gezogen: Der kam ja gar nicht aus bescheidenen Verhältnissen. Der hat zarte Ferkel und Singvögel gegessen, aus filigranen Gläsern getrunken und mit einer Spielzeugarmbrust gespielt.

Auch entlarvend ist «The Other John Updike Archive», die verstörende Idee eines Eisverkäufers, jahrelang den Kehricht des amerikanischen Schriftstellers zu plündern und die Sammlung nach dessen Tod ins Netz zu stellen. Von dem Übergriff auf die Privatsphäre abgesehen – es ist ein anderer Updike als in seinen Büchern, den man da kennenlernt. Einer, der Seifen sammelt und auch mal Softporno liest.

Im Recy-Hof versteht man inzwischen sein eigenes Wort nicht mehr, so laut klirren und knallen die Sachen in die Tonnen. Wegwerfmusik. Und für Tomi das Zeichen, den Mann an der Waage abzulösen. So schnell, wie die kostenpflichtigen Sachen gewogen, bezahlt und aussortiert werden müssen, kann nur er tippen, der Chef.

Es ist aber auch ein Alarmsignal, aufzupassen, dass niemand «Ware» mitnimmt. «Wenn sie kommen, dann jetzt», sagt Tomi und blickt ins Gewusel, das unübersichtlich geworden ist wie die Bahnhofstrasse im Sonntagsverkauf. Diebesbanden machen Jagd auf alles, was noch verschachert werden kann: Altmetalle oder Elektrogeräte, die dann irgendwann in Afrika von halbnackten Kindern auseinandergenommen werden und in beissendem Rauch verschmoren.

«So kann das Business nicht laufen», sagt Tomi. Das Business, das sind Fässer voller Speiseöl, die in der nächsten Halle zwischenlagern, oder die gepressten Kartonballen im Werkhof, wo sich die Ware zwanzig, dreissig Meter hoch auftürmt. Alles wird verarbeitet, gehandelt und weiterverkauft wie Aktien an der Börse, jedes Gramm zählt. Darum hängen auch überall Kameras, die vor Einbrüchen schützen oder aufnehmen, wer hier was hinausträgt. Big Brother auf dem Wertstoffhof.

Maag Recycling

Tappt jemand in die Falle, greift Tomi in den Overall und funkt in den Backsteinklotz vis-a -vis, wo das Management an Bildschirmen sitzt, mittendrin die angehende Chefin, die ganz andere Probleme hat. 73 Jahre nachdem ihr Urgrossvater angefangen hat, will sie den Betrieb in eine neue Ära führen.

Judith Maag sieht in Jeans und Weste kaum älter aus als die Studenten, die samstags im Betrieb aushelfen. Dabei ist die 29-Jährige bald Chefin von 65 Angestellten, die mit der ganzen Welt geschäften. Glas geht zur Verarbeitung auch in die Slowakei, nach Tschechien oder Frankreich. Aluminium wird exportiert, weil es hierzulande keine Schmelzwerke mehr gibt. Kunststoffe werden unter anderem nach Indien oder China verkauft.

«Die Zeiten sind hart», sagt Maag, die Eisenpreise sind im Keller, weil China nicht mehr «so Hunger hat» und zu viel Material angehäuft habe, das nun günstig nach Europa weiterverkauft werde. Aber da kann man nicht viel machen, «wir sind ein kleiner Fisch, wir müssen uns nach den Werkpreisen richten».

Davon haben die Menschen keine Ahnung, die beladen in den Recy-Hof kommen und erleichtert wieder gehen. Man kann sehen, wie die Anspannung aus ihren Gesichtern weicht. Wer kennt es nicht, das gute Gefühl, sich von der Last des Besitzes zu befreien? Die Umwelthistorikerin Heike Weber spricht von «einer Kulturtechnik, die eine kathartische Funktion für die ganze Gesellschaft hat». Was oft danach einsetzt, nennen Experten Rebound-Effekt. Wegwerfen schafft Platz für Neues. Wer ein sparsameres Auto hat, fährt damit vielleicht mehr. Neuer Konsum, neues Glück.

Kompostierbare Schuhe

Auch Tomi glaubt, dieses Glück in den Gesichtern seiner Kunden zu sehen. Das ist es, was ihn motiviert aufzustehen, hinein in den Overall, Mütze auf den Kopf und ran an die Container, sortieren, wägen, stapeln und wieder von vorn. Ein Glück, das auch mit einer Farbe zu tun hat: Grün ist Tomis Overall, grün sind die Tonnen und alles, was zur Corporate Identity gehört. Grün wie die Natur, die keine Abfälle kennt und mit ihren Kreisläufen Vorbild der Recycling-Idee ist. Wenn von Schweizer Müllbergen gesprochen wird, folgt stets der Hinweis auf die Recycling-Quote, als könnte man mit den fünfzig Prozent die Verschwendung wegreden. Der Gang zum Recy- Hof: fast schon eine gute Tat.

Der Umweltchemiker Michael Braungart würde diese Geschichte freilich anders erzählen. Als kollektiven Selbstbetrug, als millionenteure Alibiübung. Im Druckpapier zum Beispiel seien immer noch zu viele giftige Stoffe enthalten, die beim Wiederverwerten in Pizzakartons übergingen oder als Toilettenpapier das Wasser vergifteten, sagt er. Von den Elementen der Mobiltelefone werde nur ein Bruchteil zurückgewonnen. Weil die Hersteller kein Interesse an einem ewigen Produkteleben hätten, würden die Stoffe immer minderwertiger. Darum plädiert Braungart mit «Cradle-to-Cradle» für kompostierbare Schuhe oder essbare Sitzbezüge. «Wenn alles biologisch abbaubar oder voll verwertbar ist, kann sogar Wegwerfen Sinn machen.»

Es ist Mittag geworden, auf dem Recy-Hof gehen die Tore zu, die Spuren des Ansturms werden mit Besen beseitigt. Nur einer hämmert noch ans Gitter, er ist seine Ladung noch nicht losgeworden. «Das war’s für heute», ruft ihm Tomi zu, «Montag wieder!»