«Wir leben im Jahrhundert der Unterwelt»

NZZ am Sonntag, Hintergrund, 25. August 2019
Abfälle, Krankheiten, Rohstoffe: Der Untergrund gibt frei, was er lange verborgen hielt. Autor Robert Macfarlane reist in die Tiefe und erklärt, warum sie die dringendsten Fragen unserer Zeit aufwirft.

NZZ am Sonntag: Bei der Lektüre Ihres Buches ist mir manchmal richtig schlecht geworden.

Robert Macfarlane: Wirklich? Wunderbar!

Wunderbar? Als Sie wie ein Wurm durch die Pariser Katakomben kriechen, mit seitwärts gedrehtem Schädel und zerquetschtem Atem, hatten nicht nur Sie das Gefühl, zu ersticken.

Ach, die Passage zur Salle du Drapeau. Wirklich in Gefahr bin ich da nicht gewesen. Aber ich habe das Gewicht der Welt am ganzen Körper gespürt. Diese gewaltige und unverhandelbare Präsenz des Felsens über mir, unter mir und um mich herum. Eine tiefe und existenzielle Angst, die offenbar so stark ist, dass sie durch reine Beschreibung wirken kann. Ein zweites Mal würde ich diesen Abschnitt nicht machen.

Dafür sind Sie unter anderem in eine Eishöhle und in ein atomares Endlager hinabgestiegen. Sie haben in das Blut der Gletscher und die Abgründe der Menschheit geblickt. Nennen Sie allen Nichtlebensmüden einen guten Grund, es Ihnen nachzutun.

In der Dunkelheit habe ich gesehen, was ich sonst niemals gesehen hätte. Klaustrophobie zum Beispiel ist das Gefühl unserer Zeit. Erinnern Sie sich an die schlimmste Episode der britischen Höhlenkletterei?

Nein.

1959 wollte der Philosophiestudent Neil Moss die abgelegenen Abschnitte des Höhlensystems um die Peak Cavern in Derbyshire erkunden. Die ersten 800 Meter sind öffentlich zugänglich. Danach mündet die Schauhöhle in einen feuchten Kriechstollen, der bei Regen mit Wasser vollläuft. Hinter einem steinernen Loch liegen ein See und eine Kammer. Von da führt ein ellenbreiter Schacht in die Tiefe. Dieses Gängelabyrinth wollte Moss erforschen. Aber er blieb stecken. Und je mehr er sich bewegte und kämpfte, desto tiefer sackte er in den Schacht, wo er langsam erstickte.

Schrecklich. Was wollen Sie damit sagen?

Auch für uns wird es immer enger. Ebenso für unseren Planeten. Der Raum schwindet, die Ressourcen, die Zukunft. Je mehr Umweltkrisen wir lösen wollen, desto grösser scheinen sie zu werden. Nun konfrontiert uns die Unterwelt mit den dringendsten Fragen unserer Zeit: In der Arktis entweichen dem schmelzenden Permafrost uralte Methanvorkommen. Aufgetaute Rentierleichen setzen Milzbrandsporen frei. In Grönland taut ein versunkener Militärstützpunkt mit Hunderttausenden von Litern Chemieabfällen aus dem Eis auf. Die Unterwelt bringt ungebeten Dinge ans Licht. Auf der ganzen Welt. Nach meiner sechsjährigen Reise kann ich sagen: Das 20.Jahrhundert war das Jahrhundert der Berge. Jetzt leben wir im Jahrhundert der Unterwelt.

Davon wird noch die Rede sein. Sagen Sie uns zuerst, warum Sie die Welt auf einmal umgekehrt erkunden. Früher gingen Sie der Frage nach, weshalb Menschen für ihre Liebe zu den Bergen sterben. Was hat diesen Perspektivenwechsel ausgelöst?

Nach 2010 ist es für mich schwierig geworden, nicht über die Welt unter der Erde nachzudenken: Der Vulkan Eyjafjallajökull hat Island unter Asche begraben. Das Erdbeben in Haiti zerstörte Tausende von Menschenleben. Zudem wurden bei einem chilenischen Grubenunglück Minenarbeiter 69 Tage lang verschüttet, und die Explosion der Deepwater Horizon verursachte die Ölpest im Golf von Mexiko. Da habe ich realisiert, wie wenig wir über das unbekannte Reich unter uns wissen. Und was für einschneidende Konsequenzen es haben kann, wenn die Unterwelt nach oben kommt.

Was zieht Menschen in die Tiefe?

Wir erkunden sie schon seit Urzeiten. Die ältesten Geschichten erzählen von gefährlichen Reisen in die Dunkelheit, um Personen, Gegenstände oder Wissen aus dem Totenreich zu holen. Und auch die griechischen Mythen sind voll von Geschichten über die sogenannte Katabasis, das Hinabgehen in die Tiefen, um Geister oder Götter zur Zukunft zu befragen. Interessanter ist das Paradox, dass die Dunkelheit dabei ein Medium des Sehens ist. In der Tiefe verlieren sich die Dinge nicht, sie offenbaren sich.

Zum Beispiel?

Moderne Wissenschafter tun im Grunde dasselbe wie die Helden der Antike: Sie suchen in der Finsternis nach Wissen und Weisheit. Glaziologen bohren im polaren Eis, um die Zukunft unseres Klimas vorauszusagen. Mikrobiologen erforschen kilometerweit unter der Erdkruste die sogenannte Deep Biosphere, eine Biomasse, die reicher sein soll als die Biodiversität auf den Galapagos-Inseln. Und Physiker versuchen in unterirdischen Labors das Rätsel der dunklen Materie zu ergründen. Eine wunderschöne Metapher für die Idee von Erkenntnis oder Einsicht, weit unter der Oberfläche der Welt.

Was hätten Sie dort lieber nicht gesehen?

Die Kalksteinlandschaften von Slowenien. Während des Zweiten Weltkriegs waren sie Schauplätze von Exekutionen. Die Landschaft selbst wurde zum Henker gemacht, Menschen wurden in die Spalten und Karsttrichter hineingestossen. Als ich in den Pappelwäldern zufällig auf so einen Schlund gestossen bin, stiegen der ganze Schmerz und die Grausamkeit förmlich aus dem Abgrund zu mir hoch. Es war entsetzlich. Auch weil daneben frische Hakenkreuze in die Baumrinden geritzt waren.

Das Unterland konfrontiert uns mit unserem destruktivsten Selbst?

Einerseits. Ich habe aber auch das Gegenteil gefunden: Liebe, Altruismus und Gemeinschaft. Haben Sie schon vom Wood Wide Web gehört?

Ja. Ein deutscher Förster hat in einem Buch beschrieben, wie Bäume miteinander kommunizieren und sich über ein unterirdisches Pilznetzwerk mit Nährstoffen versorgen.

Man stelle sich das einmal vor: Millionen von Pilzfäden, die sich zwischen filigranen Baumwurzelspitzen spannen und ein hauchdünnes Netz weitreichender Verbindungen bilden. Von diesem Wunder der Natur, diesem System der Gemeinschaft, habe ich viel gelernt.

Mehr als von den Menschen? Bäume stehlen einander ja auch die Plätze an der Sonne.

Es finden sich überall menschliche Versionen des Wood Wide Webs. In den verbotenen Teilen der Pariser Katakomben zum Beispiel: Die urbanen Entdecker, die unter anderem die über 300 Kilometer von Stollen, Kammern und Tunneln erkunden, halten sich an ihre eigenen Regeln: Die Vergangenheit respektieren, nicht stehlen, alles teilen, keinen Abfall zurücklassen, niemanden verraten. Sie leben da unten ein alternatives Modell von Gemeinschaft.

Das klingt ziemlich heroisierend.

Natürlich habe auch ich Vorbehalte gegenüber dieser anarchischen Subkultur, zumal ich mich selten unwohler gefühlt habe als bei diesem Hausfriedensbruch.

Über einen Maschendrahtzaun zu klettern, macht Ihnen mehr Angst, als durch eine lose Geröllhalde zu steigen, die jeden Moment zusammenstürzen kann?

Es mag bizarr klingen. Aber ich habe einen vermutlich sehr englischen Respekt vor Privatbesitz. An den Urban Explorers missfällt mir aber auch die hipsterhafte Anspruchshaltung oder die Unachtsamkeit gegenüber jenen, die in den städtischen Strukturen arbeiten. Trotzdem überwinden sie die Geografie der Ungleichheit moderner Stadtlandschaften. Reichtum steigt, Armut sinkt ab. In den Regenkanälen von Las Vegas zum Beispiel haust eine ausgestossene Subpopulation. Das urbane Leben wird überhaupt immer vertikaler. Städte wie Paris erstrecken sich von den kilometertiefen Minen, aus deren Materialien sie gebaut wurden, bis hinauf zu den Satelliten im Orbit, die ihre Informationen wieder zurück in die städtischen Datennetzwerke beamen. Unsere Städte sind inzwischen über 3000 Kilometer hoch. Und sie wachsen weiter.

Sie sind im Kohlebergwerkland von Nottinghamshire aufgewachsen. Wie war das?

Mein Vater hat als Lungenarzt die Leiden von Minenarbeitern behandelt. Also hatte ich schon früh einen Sinn für das Gehen auf hohlem Untergrund und all die Leben, die unter mir ausgehaucht worden sind. Einen wirklichen Eindruck von uns Menschen als abbauender Spezies habe ich aber viel später bekommen. In den Minen von Boulby (GB), einem über 1000 Kilometer langen System von Labyrinthstollen und Strassen, auf denen man sogar unter dem Meer durchfahren kann. Weil es zu teuer wäre, die ausgedienten Minenmaschinen wieder nach oben zu holen, werden sie einfach zurückgelassen.

Quasi als Fossile der Zukunft.

Verrückt, nicht? Und stellen Sie sich vor: Wir haben auf der ganzen Welt 50 Millionen Kilometer Tunnel gegraben, um Öl zu fördern. Wir haben die Erde durchlöchert, um Wertvolles hervorzubringen. Eine der drei grossen Aufgaben, die das Unterland in allen Kulturen und Epochen für uns erfüllt. Nebst dem Schützen von Kostbarem oder dem Entsorgen von Schädlichem.

Welches ist die wichtigste?

Ertrag bringen. Durch den Klimawandel schmilzt das Eis, neue Bodenschätze werden erreichbar. Am Horizont erscheint ein neues, goldenes Zeitalter, mit dem gleichzeitig Gefahren für die Umwelt oder das Klima einhergehen. Nur müssen wir die Probleme wieder loswerden, die damit geschaffen werden. Auch dabei ist die Unterwelt von grosser Bedeutung. Der Global Seed Vault ist ein gutes Bespiel. Dabei handelt es sich um einen Milliarden Dollar schweren Saatguttresor, tief unten im Permafrost des norwegischen Spitzbergen-Archipels. Diese Bibliothek der Biodiversität soll sicherstellen, dass in Zukunft alle Arten erhalten werden. Das Ironische ist, dass sie letzthin wegen des schmelzenden Permafrosts ge­flutet wurde. Ich lache, aber es ist ein hohles Lachen.

Hatten Sie als Bub schon eine Ahnung von der Bedeutung der Unterwelt?

Damals habe ich mir vor allem Gedanken über die Höhlen um und Tunnel unter Nottinghamshire gemacht. Man konnte an einem Ende der Stadt in sie hineinklettern und am anderen wieder hinaus. In meiner kindlichen Phantasie waren sie brüchig, mysteriös und ziemlich phantastisch.

Was ist der Geruch der Unterwelt?

Stein und Wasser.

Das Geräusch?

Echo.

Das Gefühl?

Gewicht.

Die Farbe?

Silbrig. Und blau. Bis auf die Knochen. Überhaupt war die Gletschermühle, in die ich mich in Grönland abgeseilt habe, überirdisch. Dieses Eis speichert Informationen. Es erinnert sich mehr als eine halbe Million Jahre lang. Es hat ein Gedächtnis. Und dieses Gedächtnis ist blau.

In diesem Blau wollten Sie sogar sterben. Klassischer Fall von Tiefenrausch?

Natürlich gibt es dieses Verlangen oder sagen wir diesen romantischen Traum, sich in so einem Blau zu verlieren. Ich kenne Höhlentaucher, die einem schönen Tod möglichst nahe kommen und sich in der Ewigkeit auflösen wollen. Die Apnoetaucherin Natalja Moltschanowa zum Beispiel, die ohne Atemgerät 120 Meter tief getaucht ist. In einem Gedicht beschreibt sie, wie sie in der Stille der ewigen Dunkelheit das Nichtsein erlebt hat. Zum Glück habe ich den Sog des Abgrunds nur ein paar Sekunden lang gespürt, sonst könnten wir dieses Gespräch nicht führen.

Das wäre natürlich schade. Zumal ich auch noch wissen möchte, was Sie am äussersten Ende der Lofoten geritten hat.

Ich wollte über die sogenannte Lofotenwand zur Höhle Kollhellaren wandern, was sich mit Höllenloch übersetzen lässt. Sie liegt an der unbewohnten Nordwestküste, in einer archaischen Landschaft, am Rand von Land und Wasser. An einem Ort, an dem die Grenzen fliessend sind, man in den Ozean eindringen kann und in den Berg, in dem vor Tausenden von Jahren rote Tänzer an Höhlenwände gemalt wurden.

Die einzige Tour, die sie allein gemacht haben. Dazu noch bei miserablen Bedingungen.

Es war Frühling, aber ich wurde vom Winter eingeholt, von Schnee, von Wind. Ich hätte umkehren sollen, war aber wild entschlossen weiterzugehen. Das Lawinenrisiko stieg, ich hatte keine Kommunikation, mein Zelt wurde zerrissen. Ich war ein Idiot. Oder sagen wir: ein weiser Idiot, zumal ich die Gefahren am Ende richtig eingeschätzt habe.

Als Sie die Wandmalereien der roten Tänzer im Schein der Taschenlampe entdeckt haben, sind Sie in Tränen ausgebrochen. Aus Erleichterung?

Nein. Aus Demut. Die Unterwelt ist ein Ort, an dem die Schatten und die Geister leben, an dem Menschen etwas von sich zurücklassen, das ihnen wertvoll ist. Ich habe mich diesen Figuren sehr nahe gefühlt, und mir ist klargeworden, dass ich nur einer von ganz vielen bin, die an diesen Ort gereist sind, in Tausenden von Jahren, um Sinn zu finden.

Die nordischen Ureinwohner verstehen den Kosmos als Himmel, Erde und Unterwelt, drei Welten, zwischen denen Geister hin und her reisen. Auch Sie beschreiben Kollhellaren als dünnsten Ort, an dem Sie je waren. Warum?

Es geschahen seltsame Dinge. Als ich aus der Höhle kam, sah ich auf der anderen Seite der Bucht eine Gestalt. Als ich das nächste Mal schaute, war sie wieder verschwunden. Ich versuche, es nicht zu erklären. Es war eine Wahrnehmung, in diesem Moment, in dieser Zeit.

Wie haben die Unterwelten Ihre Wahrnehmung von Zeit verändert?

Schon die Berge haben mich gelehrt, Zeit geologisch zu begreifen. Sie misst in Einheiten, die uns kurzlebige Menschen Demut lehren: Epochen und Äonen anstelle von Minuten und Jahren. Wer auf einem Gipfel steht, bekommt einen Hauch von Ahnung, wie lange sie vor uns da waren. Man kann also auch von Deep Time sprechen, von tiefer Zeit. Sie ist auch die Zeitrechnung der Unterwelt, wo sich die Stunden verdicken, stauen und verlangsamen. Früher habe ich tiefe Zeit aber immer nur als das verstanden, was hinter uns liegt. Dabei gilt sie auch für die Zukunft. Auch wir sind Macher von tiefer Zeit. Auch wir lassen ein geologisches Erbe zurück. Die Frage, die daraus resultiert, ist die nach der Verantwortung: Wie können wir gute Vorfahren sein für die Millionen von Menschen, die nach uns kommen?

Haben Sie eine Antwort?

Man kann geologische Zeit als Ausrede verwenden. Im Sinne von: Alles kommt, wie es muss. Egal, was wir tun oder auch nicht. Die Erde nimmt ihren ewigen Lauf. Aber das ist verantwortungslos. Wir haben die Erde als unbeschränkte Ressource behandelt und dabei ihre zerstörerische Kraft vergessen, die auch aus der Unterwelt zurückschlägt. Wenn ich auf meiner Reise eine Antwort gefunden habe, dann auf der finnischen Halbinsel Olkiluoto.

Tatsächlich? Im atomaren Endlager?

Auch ich habe dort den dunkelsten Ort vermutet, aber den hoffnungsvollsten gefunden. Die Erschaffer des Endlagers Onkalo haben ein Hochsicherheitsgrab geschaffen, das in 450 Metern Tiefe radioaktive Abfälle lagern kann. Sie denken in geologischen Zeiten von Hunderttausenden von Jahren. Sie erkennen die hässliche Realität, krempeln die Ärmel hoch und zeigen uns, wie wir die Zukunft vor der Gegenwart schützen können. Für dieses Tiefenzeit-Denken plädiere ich auch in der Politik. Die Bestrebungen der Klimabewegung sind erst ein Anfang.

Sie sind an den wildesten Küsten auf Plastik gestossen und haben das Gletschereis schmelzen sehen, diese Substanz, die so kraftvoll erscheint, aber fragil ist wie Glas. Es gibt ein Wort für diese Trauer darüber, dass der Planet ausser Kontrolle ist und Landschaften für immer verändert: Solastalgie.

Das ist eher eine Form psychischer Belastung, die durch Umweltveränderungen ausgelöst wird und soziale Folgen wie Depression oder Alkoholismus haben kann. Eine Krankheit des menschgemachten Zeitalters, ein Schmerz, der unheilbar ist. Die Grönländer aus Kulusuk haben mir davon erzählt. Ihre Umgebung wird nie mehr dieselbe sein. Früher haben sie im Dorf den Gletscher noch dröhnen hören. Jetzt ist alles still.

Trotz alldem sind Sie optimistisch. Warum?

Wir müssen mit der Dunkelheit leben und können nicht bloss im Licht sein, weil dieses gar nicht permanent besteht. Die Rückkehr in die Oberwelt wird in vielen Mythen und Legenden als Wiedergeburt beschrieben. Bardo Thödol, diese buddhistische Schrift aus dem 8.Jahrhundert, handelt von einer Reise durch die Dunkelwelt, die ins Licht führt. Auch ich habe das Grün nie grüner gesehen als nach meinen Höhlentouren, auf denen man alles vergisst: Farben, Geräusche, die Sinne. In diesem Augenblick habe ich begriffen, dass das Licht nur verstehen kann, wer einmal tief im Dunkeln gewesen ist.