Sarah Darwin: «Wir Menschen riskieren unser Überleben»

NZZ am Sonntag Magazin, 1. Juni 2024
Alles hängt mit allem zusammen. Nur hätten wir Menschen das nicht verstanden, sagt Sarah Darwin, die Ururenkelin von Charles Darwin.

Sarah Darwin, Sie sind zurzeit auf Galapagos wie vor 189 Jahren Ihr Ururgrossvater, der berühmte Naturforscher Charles Darwin. Was für Expeditionen unternehmen Sie?

Letzte Nacht waren wir in den Hügeln der Insel Santa Cruz, wo sich winzige Laubfrösche explosionsartig vermehren. Zu Tausenden quaken sie in den Teichen, in denen die Riesenschildkröten schlafen und im Dunkeln wie Felsblöcke aussehen. Auf Galapagos kennen die Tiere keine Angst vor Menschen. Es war ziemlich surreal – und eine unglaubliche Kakophonie.

Dank dem Grossvater Ihres Grossvaters sind diese Riesenschildröten ebenso ikonisch wie die Landleguane, die aussehen wie Minidrachen. Und Sie machen Jagd auf Frösche?

Als Botanikerin habe ich viel Zeit auf diesen Inseln verbracht, um Tomaten zu erforschen. Aber jetzt bin ich Botschafterin des Projekts «Darwin 200», das hier junge Umweltschützer mit Wissenschaftern vernetzt. Die ecuadorianischen Forscher, die wir gestern trafen, wollen herausfinden, wie viele dieser Laubfrösche es gibt und wie bedrohlich sie sind.

Bedrohlich?

Diese Frösche können täglich Eier legen und haben auf den Galapagosinseln kaum Feinde. Zudem fressen sie eine Menge Insekten und konkurrieren mit den einheimischen Tieren. Als Darwin 1835 auf diese Inseln kam, fand er viele endemische Arten, die nur hier vorkommen, aber keine Amphibien. Sie kommen mit Salzwasser schlecht klar und waren daher gar nicht in der Lage, auf ozeanische Inseln zu gelangen.

Wie haben es diese Laubfrösche über den Pazifik geschafft? Der Galapagos-Archipel ist rund 1000 Kilometer vom ecuadorianischen Festland entfernt.

Angeblich sind sie bei Bananenlieferungen als blinde Passagiere mitgereist, obschon die Kontrollen wahnsinnig streng sind. Als ich zum ersten Mal in diese Gewässer gesegelt bin, mussten wir vorher alle Pflanzen an Bord loswerden. Auch Flugzeuge werden akribisch durchsucht und desinfiziert, weil nur ein Insekt das Ökosystem verändern könnte. Dieses Mal wurden unsere Koffer am Flughafen eine halbe Stunde lang von Hunden abgeschnüffelt.

Trotzdem: Eingeschleppte Ratten müssen ausgerottet werden, weil sie die Eier der seltenen Vögel fressen. Und an den Stränden werden jährlich mehr als acht Tonnen Plastikmüll eingesammelt. Hat dieser sogenannte Festungsnaturschutz im Zeitalter der Globalisierung noch Sinn?

Natürlich wäre es nicht realistisch, Galapagos in eine prämenschliche Ära zurückführen zu wollen. Aber es ist nach wie vor der artenreichste und unberührteste Tropenarchipel der Welt. Daher sollte kontrolliert werden, was kontrolliert werden kann. Auch wenn das alles andere als einfach ist. Einmal habe ich von einem Bauern gehört, der in der Gepäckablage des Flugzeuges ein Huhn vom Festland auf die Insel schmuggeln wollte. Es flatterte in der Kabine rum, bevor es wieder eingefangen werden konnte.

Und durfte auch nicht legal einreisen.

Auch Nutztiere müssen in Quarantäne, um keine Krankheiten einzuschleppen. Es geht leicht vergessen, dass auf Galapagos gegen 32000 Menschen leben. Obschon 97 Prozent der Inseln unter strengem Naturschutz stehen und auch Einheimische sie nur mit teuren Guides betreten dürfen. Als ich vor vielen Jahren auf unbewohnten Inseln forschte, erhielten wir lange Listen von verbotenen Nahrungsmitteln, um das Ökosystem nicht durch Samen im Kot zu gefährden. Und auch heute müssen vor Feldeinsätzen sämtliche Ausrüstungsgegenstände desinfiziert werden. So können viele Spannungen entstehen, insbesondere zwischen den Inselbewohnern und den Autoritäten. Es ist nicht alles rosa im Paradies.

2004 haben Fischer Riesenschildkröten als Geiseln genommen, um höhere Fangquoten zu erzwingen. Was hätte Charles Darwin dazu gesagt?

Ich glaube nicht, dass er sich das alles je hätte ausmalen können. Vor 30 Jahren gab es auf Santa Cruz gerade mal eine Pizzeria. Jetzt werden Hotels betrieben, Bars, Tattoo-Shops und Restaurants, in denen man Darwin-Salat essen kann und «HMS Beagle»-Kabeljau – so hiess das Vermessungsschiff, auf dem er 1831 mitsegeln durfte.

Er hat Galapagos berühmt gemacht.

Und damit auch eine Lebensgrundlage für die Bevölkerung geschaffen. Sicher aber hätte Darwin es begrüsst, die einzigartige Natur auch den Einheimischen näherzubringen. Die meisten haben nie die Möglichkeit, andere Inseln zu sehen, geschweige denn ihre eigene vom Wasser aus. Darum zeigen wir die Natur jetzt den lokalen Kids. Zudem hat «Darwin 200» gegen 200 Schüler auf das Segelschiff «Oosterschelde» eingeladen, auf dem ich zwei Wochen lang bin. Wir ankern gerade in der Bucht vor Santa Cruz, eben ist die Sonne aufgegangen.

Wie schön.

Ja, der historische Dreimaster segelt mit engagierten Naturschützern auf Darwins Route um die Welt, um eine neue Generation von Umweltschützern zu trainieren. Und auch sonst ist sehr Darwin, was wir machen.

Inwiefern?

Viele sind im selben Alter wie mein Ururgrossvater, der seine fünfjährige Forschungsreise als pickliger 22-Jähriger antrat. In Brasilien zum Beispiel haben wir einen jungen Mann aus Indien mit einer Brüllaffenorganisation zusammengebracht, damit er die Probleme zwischen Affen und Menschen in seiner Heimat besser angehen kann. Diese Art von Vernetzung ist sehr Darwin. Zu Hause in England schrieb und bekam er täglich Briefe aus der ganzen Welt. In seinen Büchern heisst es immer: «Herr XY informiert mich, dass . . .»

Was war wichtiger für seine Evolutionstheorie, die Riesenschildkröten oder die Spottdrosseln?

Zuerst sind ihm die Spottdrosseln aufgefallen, die jenen vom südamerikanischen Festland zwar ähnelten, aber doch Unterschiede aufwiesen. Er hat auch viele Pflanzen gefunden, die auf den Inseln anders aussahen. So ist ihm klargeworden, dass er sich an einem Ort von aussergewöhnlichem Endemismus befindet und viele Arten einzig hier vorkommen.

Der Moment, der unseren Blick auf die Welt für immer veränderte?

Das ist das grosse Missverständnis: Es war kein einzelnes Aha-Erlebnis, das die Evolutionstheorie begründete. «Über die Entstehung der Arten» ist erst 1859 erschienen, mehr als 20 Jahre nach seiner Weltreise. Sicher aber war Galapagos zentral für die Entwicklung der These, für die er jahrelang Beweise sammelte. Kurz nach der Ankunft erzählte ihm ein britischer Gouverneur von den Riesenschildkröten, an deren Panzer er erkennen könne, von welcher Insel sie stammen. Aus all dem folgerte Darwin viel später, dass Arten sich an ihre Umgebung anpassen. Das nannte er schliesslich Evolution durch natürliche Selektion.

Solange Gott als Schöpfer der Erde galt, war das eine ziemlich gewagte Idee.

Ja, wir Menschen kamen im Baum des Lebens direkt nach den Engeln und standen damit über dem Rest der Welt. Darwin hingegen hat uns bewusstgemacht, dass alle Lebewesen einen gemeinsamen Ursprung haben und demzufolge auch wir nichts Besonderes sind. Warum auch würde ein Schöpfer für jede noch so kleine Insel eine eigene Flora und Fauna erschaffen?

Einverstanden, dass wir nur zufälligerweise von «Darwinismus» sprechen und nicht von «Wallacianismus»?

Sicher verfolgte der britische Entdecker und Naturforscher Alfred Russel Wallace dieselbe Theorie wie Darwin. Sie waren Teil einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die einen regen Austausch pflegte. So kam es, dass Wallace seine Ideen in einem Essay niederschrieb und Darwin um eine Einschätzung bat. Der wiederum hatte den Schock seines Lebens: Wallace hatte ihm quasi eine Zusammenfassung der Theorie geschickt, an der er selbst 20 Jahre lang gearbeitet hat.

Ein Albtraum.

In der Tat. Sogar die Titel sollen praktisch identisch gewesen sein. Trotzdem schickte Darwin den Essay wie gewünscht weiter an den schottischen Geologen Charles Lyell, der als Erster dargelegt hatte, dass die Erde entgegen der biblischen Erzählung Millionen von Jahren alt ist. Wallace’ und Darwins Thesen wurden schliesslich am selben Tag in der Naturgesellschaft Linnean Society of London präsentiert.

Nur ein Jahr später ist sein Monumental­werk «Über die Entstehung der Arten» erschienen. War er vor allem der schnellere Schreiber?

Das Buch hat sich sicher auch deshalb so gut verkauft, weil es so einfach und anschaulich verfasst ist.

Es klingt wie ein Wettlauf zum Pol.

Darwin wollte schon der Erste sein. Und Wallace hatte einfach Pech: Seine ganze Sammlung von Käfern, Schmetterlingen und Vögeln ist bei einem Feuer auf dem Schiff verbrannt und im Meer versunken. Dramatisch war das nicht bloss für seine Forschung. Im Gegensatz zu Darwin, der aus einer wohlhabenden Familie stammte, musste er seinen Lebensunterhalt verdienen und seltene Exemplare an Sammler verkaufen.

Wenn wir alle Teil der Natur sind: Haben Tiere eine Seele?

Die Trennlinien zwischen den Menschen und den Tieren werden immer weniger. Früher galt die Überzeugung, Menschen würden als Einzige Werkzeuge verwenden. Heute ist das längst widerlegt. Finken zum Beispiel bohren mit Kaktusstacheln nach Maden, und haben Sie vom Orang-Utan auf Sumatra gehört, der neulich überall in den Medien war?

Er behandelte eine Wunde mit dem Saft einer Liane, die wiederum für ihre entzündungshemmende Wirkung bekannt ist.

Auch Tiere wissen sich zu heilen. Schimpansen fressen Holzkohle von verbrannten Bäumen oder Feuerstellen, wenn sie giftige Früchte erwischt haben. Der Schriftsteller Yuval Noah Harari geht davon aus, dass uns die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, einzigartig macht. Aber was wissen wir schon, was Wale einander zusingen?

Und Pflanzen: Haben die Gefühle?

Davon müsste ich noch überzeugt werden. Aber ich weiss schon, worauf Sie hinauswollen.

Tomatenpflanzen wachsen angeblich schneller, wenn Sie ihnen vorlesen.

Es handelte sich auch um einen Aprilscherz, als wir Tomatenpflanzen bei einem Wettbewerb aus literarischen Werken vorlasen. Darwins Buch habe ich ausgewählt, weil es gerade das 150-Jahr-Jubiläum feierte. Meine Pflanze ist danach am schnellsten gewachsen.

Wie erklären Sie sich das?

Es könnte mit meiner tiefen Stimme zu tun haben. Aber man müsste das ernsthafter erforschen und mit einer viel grösseren Stichprobe.

Machen eigentlich alles Darwins irgendetwas mit Natur?

Meine Mutter liebte die Natur zwar, war aber Hausfrau und mein Vater Materialwissenschafter. Er hat Darwin nie gekannt, mein Grossvater auch nicht. Darum kursieren in unserer Familie auch keine Anekdoten über ihn. Vermutlich bin ich ihm nicht viel näher als andere Wissenschafter, auf die er einen grossen Einfluss hatte. Und von denen gibt es in unserer Familie einige.

Er war es nicht, der Sie zum Botanikstudium inspirierte?

Nein. Wenn wir etwas gemeinsam haben, dann ist es die Leidenschaft für die Natur. Aber ich habe zunächst Kunst studiert und auf Galapagos als Pflanzenillustratorin gearbeitet. Für einen Feldführer sollte ich auch Galapagos-Tomaten zeichnen. Aber eine der Arten, die ich auf den Inseln fand, passte nicht zu den wissenschaftlichen Beschreibungen. Sie hatte kleine rote Früchte statt orangefarbene oder gelbe. Also habe ich einige Jahre lang alle möglichen Experten kontaktiert, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und so ist meine Dissertation über dieses Thema entstanden.

Was ist das Aufregendste, was die Welt über Tomaten wissen muss?

Sie stehen auf dem Speiseplan der Riesenschildröten. Und wieder ausgeschieden, keimen die Samen Wochen später viel besser. Zudem sind sie sogenannte Pionierpflanzen, die auf diesen Vulkaninseln oft als Erste auf neuer Lava Wurzeln schlagen. Wie sie das schaffen, soll nun erforscht werden. Und eine der Galapagos-Arten erspart der Tomatenindustrie jedes Jahr Millionen.

Wie das?

Weil sie keinen geknickten Stiel hat, lassen sich die Früchte leichter pflücken, und es bleibt kaum Grünzeug hängen. Diese Eigenschaft wurde allen Kulturtomaten der Welt angezüchtet, um sie mechanisch ernten zu können. Wir haben also alle schon ein bisschen Galapagos-Tomate gegessen. Nur haben wir die wilden Populationen dieser Art seit einigen Jahren nicht mehr gesehen.

Sind sie ausgestorben?

Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Auf Santa Cruz, wo sie früher zu finden waren, ist viel gebaut worden. Aber sie können noch an so vielen Orten wachsen. Gestern haben wir uns wieder stundenlang durchs Dickicht gekämpft, um sie zu finden. Die Vegetation ist unglaublich dicht dieses Jahr. Zudem ist es sehr schwierig, auf den äusserst wackligen Lavablöcken zu gehen, die manchmal bis zu fünf Meter tiefe Abgründe haben.

Von den geschätzt acht Millionen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten drohen bis zu zwei Millionen auszusterben wie die Dinosaurier. Warum ist es eigentlich so katastrophal, wenn Arten verschwinden?

Weil in der Natur alles miteinander verbunden ist. Der Verlust einer Art kann viele andere auslöschen. Zerstören wir zu viel, können wir sogenannte Kipppunkte erreichen, bei denen die Ökosysteme kollabieren. Und das wiederum hätte sehr negative Auswirkungen auf die Menschen selbst, zumal auch wir auf diese Systeme angewiesen sind.

Sie forschen am Berliner Museum für Naturkunde, zu dessen Sammlung ausgestorbene Tiere wie etwa das Quagga zählen, eine Mischung aus Pferd und Zebra. Oder der Riesenalk, ein flugunfähiger Seevogel. Wenn Sie ein Tier zum Leben erwecken könnten, welches wäre das?

Wie gesagt: Funktionierende Ökosysteme sind viel wichtiger als einzelne Arten. Riesenschildkröten zum Beispiel können pro Tag bis zu 2,5 Kilo Kot ausscheiden, auf dem wiederum Käfer leben. Und indem sie so viel Vegetation beseitigen, schaffen sie Lebensräume für viele andere Arten. Wir sollten in erster Linie schützen, was wir haben. Das ist billiger und viel effektiver. Aber wenn ich so etwas wie ein Lieblingstier habe im Museum, dann ist es der Archaeopteryx.

Was ist das denn?

Man kann ihn als vogelartiges Reptil beschreiben oder als reptilartigen Vogel. Weil er Federn und Flügel wie ein Vogel hat sowie Zähne und einen Schwanz wie ein Reptil. Er gilt als eine Übergangsform zwischen Dinosauriern und Vögeln. Und ist damit auch der «missing link» für Darwins Evolutionstheorie.

Ihr Ururgrossvater gehört zu den grossen Denkern, die unsere Welt verändert haben. Was bedeutet er Ihnen?

Für mich war er nie relevanter als heute. Weil er einer der Ersten war, die die Menschen als Teil der Natur verstanden. Wir teilen die Vorfahren mit allen Dingen auf dem Planeten, allen, die ausgestorben sind, und allen, die noch leben. Es wäre gut, wenn wir das endlich begreifen würden. Stattdessen führen wir Krieg gegen die Natur, wie es der Uno-Generalsekretär nennt. Oder man könnte auch sagen: Wir Menschen bekriegen uns selbst und riskieren damit unser eigenes Überleben.

Sie haben ein Kinderbuch über Evolution geschrieben. Wie erklärt man den Kleinsten der Kleinen so etwas Trauriges wie das Artensterben?

Zuallererst sollten wir Kindern die Wunder der Natur zeigen und keine Angst vor Umweltkrisen schüren. Schon Achtjährige aber kann man für die Prozesse der Evolution begeistern. Ihnen diese zu vermitteln, finde ich sehr wichtig. Weil sie die Basis allen Lebens bilden. Verstehen wir Evolution, können wir auch die Biodiversität besser verstehen. Und wie sonst kann man an dem demokratischen Entscheidungsprozess teilnehmen, der für unsere Zukunft so wichtig ist? Wer das Artensterben nicht versteht, kann auch nichts dagegen tun.